# taz.de -- Zum Tod von Christian Semler: Radikalität, Sensibilität, Nüchternheit
       
       > Es war ein Vergnügen den Geschichten von Christian Semler zuzuhören und
       > seine Texte zu lesen. Und es wird gut sein, sie nachzulesen. Er fehlt.
       
 (IMG) Bild: Mao hat sich auf den langen Marsch gemacht: vom global wirkenden Ideengeber zur Kitschfigur im Pekinger Souvenirhandel.
       
       BERLIN taz | Als Jurastudent und SDS-Mitglied war Christian Semler wegen
       seiner Radikalität und seines überdurchschnittlichen Wissens beeindruckend.
       Aber seine Argumentationsfähigkeit schien sich dann selbst zu widerlegen.
       Die Unterwerfung unter Figuren und Symbole sowie der entsprechende Rausch
       waren das Gegenteil dessen, was man je wollen wollte.
       
       Als Christian Semler ab 1980 wieder autauchte, war er zugleich der alte und
       ein neuer: umgänglich, argumentierend, lesend, belesen und klug. Er tauchte
       nicht auf der anderen Seite des politischen Spektrums auf, sondern auf der,
       die er 1970 verlassen hatte. Es war zugleich irritierend und erfreulich.
       Nun war es ein Vergnügen, ihn zu lesen und ihm zuzuhören. Aber warum?
       
       Die Gründe dafür führen in die Zeit der Umbrüche der achtziger Jahre
       zurück. An Christian Semlers Argumenten jener Zeit wird ein Umgang mit
       Geschichte aus der Perspektive der Gegenwart und ein Umgang mit der
       Gegenwart auf dem historischen Fundament deutlich, der aufklärt. Eine
       besondere Rolle spielte für ihn zunächst die polnische Solidarnosc, die
       tschechische Charta 77 und die ungarischen Oppositionellen.
       
       Seine Sympathien lagen fraglos bei den demokratischen Oppositionen. Aber er
       vergaß nie, daß sie in einem Rahmen agierten, der nicht nur aus Strukturen
       und Ereignissen bestand, sondern auch aus Hoffnungen, Erinnerungen und
       Illusionen. Und darunter lagen historische Schichten, die den Akteuren
       selbst nur teilweise bewußt, aber dennoch wirksam waren. Das konnte weit
       zurückreichen, Proportionen zurechtrücken und zur Nüchternheit anhalten.
       
       ## Anschlußmöglichkeiten für Reflexionen
       
       Sein historische Informiertheit ermöglichte es Christian Semler,
       überraschende und meist einleuchtende Perspektiven einzunehmen. Diese
       Perspektiven verleugneten nicht seine politische Position, seine
       Positionsnahmen verleugneten nicht seine Intelligenz und die verleugnete
       nicht seine Menschlichkeit. Das galt auch für jene Texte, die immer neue
       Entwicklungen aufgriffen.
       
       Was er schrieb oder erzählte, es mochte noch so anekdotisch sein, bot der
       Reflexion immer Anschlußmöglichkeiten. Dazu ein Bericht aus seiner
       Kinderheit: Das Kriegsende habe der kleine Christian in dem kleinen
       oberbayerischen Ort, in dem er damals lebte, als Erlösung erfahren. Jubelnd
       sei er, kleine Hakenkreuzfähnchen schwenkend, den amerikanischen Befreiern
       entgegengerannt. Denn jetzt gab es schulfrei. Die Enttäuschung kam eine
       Woche später, als die Schule weiterging. Das war eine Geschichte, die Sinn
       aus ihren vergangenen und künftigen Kontexten bezog.
       
       Es war gut seine Geschichten zu hören und seine Texte zu lesen. Und es wird
       gut sein, sie nachzulesen. Er fehlt.
       
       13 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erhard Stölting
       
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