# taz.de -- Die Wahrheit: Die fehlende Schraubzwinge
       
       > Wie mir einmal der bekannte Komponist Brahms zum Popanz wurde.
       
       Gegen halb vier am Morgen erwachte ich und konnte nicht wieder einschlafen,
       weil mich plötzlich der Argwohn quälte, der bekannte Komponist Brahms,
       dessen Name und zum Teil langweilige Werke täglich im Rundfunk zu hören
       sind, könne es in böser Absicht auf mich abgesehen haben und meine
       Vernichtung planen. Es war niemand da, um mich mittels Infusionen,
       Tablettengaben oder Bestrahlungen von meiner Zwangsvorstellung zu kurieren,
       und so verfestigte sie sich.
       
       Wie schon vor mir dem Komponisten Hans Rott wurde mir Brahms zum Popanz und
       dies umso mehr, als ich von jeher eine ausgeprägte Neigung zum
       Popanzifizieren von was auch immer besaß – siehe dazu auch die von meinen
       Eltern in den fünfziger Jahren veröffentlichte Broschüre „Die ausgeprägte
       Popanzifikationsinklination unseres Sohnes“, mit einem Vorwort von Theodor
       Heuss.
       
       Zum Beweis seiner Macht gaukelte Brahms mir auf dem Wege der
       Gedankenmanipulation vor, ein Abflussrohr im Keller sei seit Jahrzehnten
       schadhaft und mittels einer Schraubzwinge nur provisorisch abgedichtet, so
       dass es infolge Materialermüdung beim nächsten starken Wasserandrang zu
       einer Überschwemmung des Kellers kommen werde.
       
       Als ich in jener Nacht hinabstieg und die eiserne Abdeckplatte des
       Revisionsschachts anhob, gewahrte ich auf den ersten Blick besagte
       Schraubzwinge. Ein eilig bestellter Klempner öffnete den Schacht. Diesmal
       sah ich an dem fraglichen Rohr eine leicht rostige Vorrichtung, offenkundig
       das Ergebnis einer in der Vergangenheit durchgeführten Reparatur. Der
       Installateur konnte nicht mehr tun als mir versichern, alles sei in bester
       Ordnung.
       
       Für das Abflussrohr mochte dies gelten, nicht aber für meinen
       geistig-seelischen Zustand. Brahms spielte mutwillig mit meiner Wahrnehmung
       der Welt. Alles konnte geschehen, weil er es geschehen lassen konnte. In
       einer solchen Lage ist es natürlich, auf Auswege zu sinnen. Die Frage war
       jedoch, ob es überhaupt welche gab, wenn Brahms eine derartige Macht über
       meine Gedanken besaß. An einer großen Tafel in seiner Schaltzentrale konnte
       er meine Bewegungen in der äußeren Welt verfolgen. Aufblinkende Lämpchen
       zeigten ihm, wo ich gerade war.
       
       Meine einzige Chance sah ich im Rückzug nach innen. Vielleicht konnte ich
       mich am äußersten Rand meines Bewusstseins verstecken, in der letzten Stadt
       vor dem gemalten Hintergrund. Ich hatte absolut keine Wahl. Mit dem Mut
       eines Verzweifelten machte ich mich, jeden Gedanken daran vermeidend, auf
       den Weg. Um meine Spur zu verwischen, legte ich mir verschiedene
       Tarnidentitäten sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts zu und
       reiste mehrmals nacheinander als Privatperson und im Auftrag von
       verschiedenen Behörden oder Firmen, mit dem Zug, per Hubschrauber und im
       eigenen Personenkraftwagen. Das musste Brahms verwirren.
       
       Nach meiner ersten Ankunft mietete ich mich im Bahnhofshotel ein. Als ich
       mein Zimmer betrat, sah ich es sofort: Auf dem Bett lag eine alte
       Schraubzwinge.
       
       15 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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