# taz.de -- Debatte Türkei und Kurden: Frieden steht vor der Tür
       
       > Ministerpräsident Erdogan und PKK-Chef Öcalan haben eine historische
       > Chance. Sie können den jahrzentelangen Krieg mit 40.000 Toten jetzt
       > beenden.
       
 (IMG) Bild: Endlich Frieden? Pro-kurdische Demonstration in Istanbul
       
       Mit den Friedensgesprächen zwischen der türkischen Regierung und der
       kurdischen PKK bahnt sich eine tiefgreifende Veränderung der Türkei an. Ein
       Transformationsprozess, der das Land noch einmal genauso stark verändern
       wird wie die politische Entmachtung des Militärs und die Re-Islamisierung
       während der letzten zehn Jahre.
       
       In der Türkei steht der Wandel von einem einseitig türkisch-ethnischen,
       nationalistischen Gemeinwesen, zu einer multiethnischen Gesellschaft bevor.
       Wenn denn der derzeitige Friedensprozess mit der kurdischen PKK-Guerilla
       und der kurdischen Minderheit insgesamt zu einem erfolgreichen Ende geführt
       wird.
       
       Ein Ende des Krieges wird die Chancen von Millionen Einwohnern dramatisch
       verbessern. Denn es geht ja nicht nur darum, dass nicht mehr geschossen
       wird. Letztlich bedeutet ein echter Frieden einen neuen
       Gesellschaftsvertrag, ausformuliert in einer neuen Verfassung. Das ist noch
       ein langer Prozess mit vielen Unwägbarkeiten, aber Frieden ist möglich.
       
       Ein jahrzehntelanger blutiger Konflikt kann in diesem Jahr beendet werden,
       wenn die entscheidenden Player die Nerven behalten und sich von absehbaren
       Provokationen und Rückschlägen nicht von ihrem Ziel abbringen lassen.
       
       ## Erst Marxist, dann Kurde
       
       Die entscheidenden Figuren sind zweifelsohne Ministerpräsident Recep Tayyip
       Erdogan und der seit nunmehr 14 Jahren inhaftierte PKK-Führer Abdullah
       Öcalan. Für beide war es ein langer Weg bis zu dem Tag, an dem sie
       gemeinsam über Frieden und die Rolle der Kurden in einer zukünftigen Türkei
       zu reden begannen. Öcalan kommt ursprünglich aus der marxistischen
       türkischen Linken. Erst später entdeckte er seine ethnische Identität als
       Kurde, distanzierte sich nach und nach von der Linken und wurde zu einem
       nationalistischen Kurdenführer. Er träumte davon, die über die Türkei,
       Iran, Irak und Syrien verstreuten Kurden zu vereinen und einen neuen
       kurdischen Staat zu gründen.
       
       Demgegenüber Erdogan, der in einer islamistischen,
       türkisch-nationalistischen Bewegung groß wurde, die in ihren kühnsten
       Träumen die Wiedererrichtung eines türkischen Kalifats am Horizont sah.
       Öcalan war für Erdogan und seine Leute immer der Terrorist Nummer eins,
       genauso wie für die übrigen Parteiführer des Landes. Undenkbar, mit diesem
       Mann zu verhandeln.
       
       Trotzdem reden die beiden jetzt miteinander, wenn auch nicht von Angesicht
       zu Angesicht, so doch über einen sehr kurzen Kommunikationsweg, den der
       Vertraute Erdogans, Geheimdienstchef Hakan Fidan, herstellt. Nach vielen
       vergeblichen Anläufen, nach jahrelangem Taktieren und mehr als 40.000
       Toten, ist es dieses Mal ernst – beide wollen zu einem Abschluss kommen.
       Warum?
       
       Der erste und wichtigste Grund ist, die Mehrheit der türkischen und
       kurdischen Bevölkerung in der Türkei will endlich ein Ende des
       Blutvergießens. Aus diesem Grund sind alle bereit, Zumutungen hinzunehmen,
       die noch vor Kurzem als indiskutabel galten.
       
       Der zweite Grund ist: Es dürfte die letzte Chance sein, den Konflikt mit
       politischen Mitteln beizulegen. Der Verdruss über den jahrzehntelangen
       zermürbenden Kleinkrieg ist so groß, dass die unmittelbare Gefahr eines
       echten Bürgerkriegs besteht. Kommt es jetzt nicht zu einer Einigung, werden
       sich wohl bald nicht mehr nur Armee und PKK bekämpfen, sondern kurdische
       und türkische Bürger selbst aufeinander losgehen.
       
       ## Persönlicher Gewinn der Führer
       
       Der dritte Grund ist: Es gibt ein „Window of Opportunity“ weil jetzt, für
       einen kurzen historischen Moment, das Personal da ist, um einen Frieden
       durchzusetzen. Erdogan ist der stärkste Premier der Türkei seit Langem. Er
       ist auf dem Zenit seiner Macht, er kann die Mehrheit der Türken auf dem Weg
       der notwendigen Änderungen zu einem Frieden mit den Kurden mitnehmen.
       Dasselbe gilt für Abdullah Öcalan. Bei seiner Inhaftierung im Januar 1999
       war er vor allem ein despotischer Führer einer großen kurdischen Guerilla,
       heute ist er unter den Kurden eine Legende, ein charismatischer Führer, der
       weit über die Grenzen der Türkei hinaus verehrt wird.
       
       Viertens, und wohl am wichtigsten, beide Seiten können bei einem
       Friedensschluss große Gewinne einstreichen. Das gilt für Erdogan und Öcalan
       als Personen, mehr aber noch für die Türkei und die Kurden insgesamt.
       
       Zuerst zu den persönlichen Hoffnungen. Erdogan will 2014 Präsident werden,
       und zwar mit erheblich erweiterten Vollmachten, als der türkische Präsident
       sie heute hat. Dazu braucht er eine entsprechende Verfassungsänderung, zu
       der ihm die Kurden mit ihren Stimmen im Parlament verhelfen könnten. Mit
       einem Friedensschluss mit den Kurden würde Erdogan darüber hinaus endgültig
       als der Gründervater der modernen Türkei des 21. Jahrhunderts in die
       Geschichte eingehen. Das Land, von der Bürde des Krieges mit den Kurden
       befreit, hätte dann tatsächlich die Chance, innerhalb der kommenden
       Jahrzehnte unter die stärksten Wirtschaftsnationen weltweit aufzurücken.
       
       Erdogan braucht den Frieden mit den Kurden auch, um bei der absehbaren
       Neuordnung im Nahen Osten tatsächlich eine entscheidende Rolle spielen zu
       können. Das betrifft Syrien nach Assad, und das betrifft den Irak, wo die
       Kurden im Norden dank ihres Öls immer stärker werden. Die irakischen Kurden
       um ihren Präsidenten Massud Barsani warten nur darauf, dass Erdogan endlich
       zu einer Einigung mit der PKK kommt, damit sie mit Ankara eine strategische
       Allianz eingehen können, die den Nordirak zu mindestens de facto von der
       Regierung in Bagdad befreit.
       
       Wenn das kurdische Öl durch die Türkei auf den Weltmarkt kommt, braucht
       Barsani auf die schiitische Regierung in Bagdad keine Rücksicht mehr zu
       nehmen, und die Türkei kann ihre Energieprobleme mithilfe der irakischen
       Kurden lösen, statt weiterhin in Russland teuer dafür bezahlen zu müssen.
       
       ## Kurdischer Arafat?
       
       Eine solche Allianz mit den Kurden im Nordirak würde auf die eine oder
       andere Weise auch die Kurden in Syrien mit integrieren und könnte den
       Kurden in der Türkei endlich zu mehr Wohlstand und Entwicklung verhelfen.
       
       Für Abdullah Öcalan ist der jetzige Friedensprozess die letzte Chance,
       lebend den Isolationsknast auf der Insel Imrali zu verlassen. Schon jetzt
       ist von Hausarrest die Rede, je mehr der Friedensprozess konkrete Gestalt
       annimmt, umso schneller verbessert sich auch Öcalans persönliche Situation.
       Darüber hinaus aber hat Öcalan jetzt die Chance, den Sprung vom
       inhaftierten Guerillachef zum kurdischen Arafat, manche Kurden sprechen gar
       vom kurdischen Mandela, zu machen.
       
       Zwar muss der Traum von einem eigenen Staat erst einmal zurückgestellt
       werden, aber die Kurden in der Türkei, im Nordirak und in Syrien bekämen
       innerhalb der Einflusssphäre der Türkei doch mehr Selbstständigkeit und
       Sicherheit, als sie in den letzten hundert Jahren hatten.
       
       Sicher ist vieles noch unklar, und die Risiken sind hoch. Eine bessere
       Chance für den Frieden wird aber nicht mehr kommen.
       
       1 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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