# taz.de -- Debatte Sitzenbleiber: Wie die Lernlust zerbröselt
       
       > Unbedingt ist das Sitzenbleiben abzuschaffen, Lernen braucht Belohnung,
       > nicht Demütigung. Denn das ist die Erfahrung, die weiterbringt.
       
 (IMG) Bild: Ein Fluch, dieses Sitzenbleiben.
       
       Auf dem Laufsteg von Pop und Politik stolziert die Riege der Sitzenbleiber.
       Allen voran Edmund, der Obersitzenbleiber. Ihm folgen Wulff, Westerwelle
       und Steinbrück. Wowereit ist natürlich immer dabei und nun auch
       Kretschmann. Man könnte in dieser Riege einen Beweis für die lockere
       Koppelung von Schulerfolg und Karriere sehen.
       
       Die Sitzenbleiber selbst hingegen wiederholen ihr Mantra: „Geschadet hat es
       uns nicht.“ Hessens Volker Bouffier bringt die Apologie der Wiederholer auf
       den Punkt: „Wer das Sitzenbleiben abschafft, raubt den Kindern
       Lebenserfahrung.“ Und wenn Josef Kraus vom notorisch sitzen bleibenden
       Deutschen Lehrerverband „naive Erleichterungspädagogik“ donnert, bedankt
       sich Springer mit der Schlagzeile „Lehrer kämpfen für das Sitzenbleiben“.
       
       Ausgelöst hat diese Welle die Erklärung von Rot-Grün, in Niedersachsen auf
       das Sitzenbleiben verzichten zu wollen. Das haben zwar andere Bundesländer
       schon mit Erfolg eingeleitet, aber diesmal gelang den Verfechtern der
       „Lebenserfahrung“ die empiriefreie Skandalisierung. Schreibt es euch bitte
       hinter die Ohren, insistieren sie, mit dem Sitzenbleiben verschwindet auch
       die Leistung. So ist halt die harte, die einzig wirkliche Wirklichkeit. Der
       Mensch braucht diesen Riemen, und wer sich nicht am Riemen reißt, der macht
       die Runde noch mal. Verstanden!
       
       Ohne diese Lebenshärte werde nur – wie heißt das Wort? Genau: gekuschelt.
       Sagt Julia Klöckner, Bouffiers rheinland-pfälzische CDU-Nachbarin, die auch
       gerne Ministerpräsidentin wäre. Kuscheln, diese träge, fast klebrige Art
       von Zärtlichkeit, passt in die Kosmologie, in der das Antriebszentrum von
       Menschen nicht in ihnen und schon gar nicht zwischen ihnen sitzt, sondern
       irgendwo außerhalb. Frau Klöckner drückt es so aus: „Schule ohne
       Sitzenbleiben ist wie Fußball ohne Absteiger“, und fällt dann in den
       Refrain ein: Ohne Anstrengung geht es nicht!
       
       ## Dieses klebrige Kuscheln
       
       Was die Politikerin da so erzählt, verhöhnt natürlich alle, die gern
       Fußball spielen und keine Legionäre sind. Nur Letztere spielen für ihren
       Marktwert. Aber auch bei Profis gibt es kein elegantes Kombinationsspiel
       ohne Freude. Anstrengung steht dazu gar nicht im Widerspruch, zumindest
       solange sie nicht von diesem inneren menschlichen Streben, über das wir von
       den Klassikern im Deutschunterricht so schöne Sätze gehört haben,
       abgespalten worden ist.
       
       Spaltprodukte deutscher Bildung sind „der Streber“ und „der Sitzenbleiber“.
       Warum können wir nicht endlich das Zerrissene zusammenbringen, wie es den
       zivilisierteren Völkern gelingt? Streben, ohne Streber zu sein. Übungen
       wiederholen, ohne ein Wiederholer zu werden. Denn auch das Wiederholen
       gehört zum Lernen wie die Freude, der Eigensinn und eben auch das Streben.
       Dafür brauchen wir allerdings mehr als das allmähliche Abschaffen des
       Sitzenbleibens. Dafür brauchen wir eine andere Choreografie der Schule.
       Daran wird vielerorts gearbeitet, und sie ist das Thema hinter dem Thema.
       Denn das ist doch der Skandal, dass den meisten Jugendlichen über die Jahre
       alles ziemlich egal geworden und so wenig vom Schulwissen geblieben ist.
       
       ## Schule ganz schnell vergessen
       
       „Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach
       Schulabschluss noch besitzen, laufen darauf hinaus, dass das Schulsystem
       einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen null strebt.“ Zu diesem Resultat
       kommt Gerhard Roth. Der Bremer Hirnforscher, der bis vor Kurzem Präsident
       der Studienstiftung des deutschen Volkes war, ist alles andere als ein
       Scharfmacher im Bildungskrieg.
       
       Während sich die Sitzenbleiber ständig zu Wort melden und die Protagonisten
       des Verzichts aufs Sitzenbleiben sozialdemokratisch schweigen, kommt aus
       einer anderen Ecke der Ruf „Aufstehen“. Frank Schirrmacher zum Beispiel,
       Herausgeber der FAZ, nimmt sich in seinem Buch „Ego“ das Monster Homo
       oeconomicus vor. Dessen Religion eines absoluten Eigeninteresses betreibe
       die Erosion der gemeinsamen Welt, nicht nur der Umwelt. Wenn der
       Kapitalismus die Kapillaren der Lebenswelt zersetzt, könnte das große
       Verwerten und Entwerten tatsächlich ein Endspiel einleiten. Es stellt sich
       die Hannah-Arendt-Frage, ob wir die Welt genug lieben, um sie überhaupt
       retten zu wollen.
       
       ## Mit Belohnung überraschen
       
       Auch Ökonomen sind inzwischen von der Ausbreitung des Falschgelds
       beunruhigt. Eine Ursache der Finanzkrise sieht der kanadische
       Managementtheoretiker Henry Mintzberg in der Dressur der Banker auf
       kurzfristige Erfolge durch Boni. Die Konditionierung auf Außensteuerung
       lasse das Urteilsvermögen verwahrlosen. Sein amerikanischer Kollege Samuel
       Bowles ergänzt, explizite, also äußere Leistungsanreize zerstörten gute
       Absichten.
       
       Man kann es auch „Korrumpierungseffekt“ nennen. In einer Stanford-Studie
       wurden Kinder für das Malen eines Bildes belohnt. Schon nach einigen Wochen
       hatten sie, wenn die Belohnung ausblieb, deutlich geringere Lust dazu.
       Ähnliches wurde auch bei Mathespielen festgestellt. Das müsste doch zu
       einem Aufschrei führen, dass die tief verankerte Freude, sich zu steigern,
       auch durch Üben – man beobachte nur Kids auf Skateboards –, dass diese
       menschliche Lernlust zerbröselt, wenn Tätigkeiten zum Mittel für externe
       Zwecke herabgesetzt und entwürdigt werden. Wer hingegen überraschend
       belohnt wird, so zeigte die Stanford-Studie, verliert keine Motivation. Das
       wäre auch der Unterschied von Geld und Gabe.
       
       Es ist ein bisschen so wie mit den Pferden. Das lockere Laufen über Wiesen
       und nicht das Springen über Hindernisse ist ihre „Natur“. Aber Zuckerbrot
       und Peitsche bringen sie dazu. Bei Hunden, die gern in der Erde scharren,
       gibt es ein sicheres Gegenmittel: Sie dafür erst ständig belohnen und dann
       die Belohnung kündigen. Hunde buddeln dann nicht mehr. Dressur funktioniert
       bei allen in Gruppen lebenden, anerkennungsbedürftigen Säugern.
       
       Nach einer Umfrage im Auftrag des Philologenverbandes wollten 85 Prozent
       der Schüler aufs Sitzenbleiben nicht verzichten. Sie fürchteten, dass sie
       andernfalls kaum noch „was für die Schule tun“.
       
       24 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reinhard Kahl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schule
 (DIR) Steinbrück
 (DIR) Westerwelle
       
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