# taz.de -- Freiluft-Ausstellung über Migration: Eine Stadt, 172 Nationen
       
       > Die Göttinger Ausstellung „Movements of Migration“ zieht sich vom Bahnhof
       > mehrere Straßen bis an das andere Ende der Innenstadt – unauffällig aber
       > anklagend.
       
 (IMG) Bild: Göttinger Geschichte: Protestmarsch nach Griechenland.
       
       GÖTTINGEN taz | Jahrzehnte sind mittlerweile vergangen, aber das Unbehagen
       bleibt. Im schummrig-dunklen Inneren eines Containers, mitten auf dem
       Göttinger Bahnhofsplatz zwischen den Reisenden mit ihren Trolleys und
       Taschen, versetzen schlichte Comicbilder den Betrachter zurück in den
       November 1963. In eine Zeit, in der griechische Gastarbeiter zu viert in
       kleinen, spärlich eingerichteten Zimmern lebten. In der sie zu miserablen
       Arbeitsbedingungen bei einer Göttinger Holzfirma arbeiteten und Rassismus
       und Ausgrenzung zum Alltag gehörten.
       
       Doch das alles sollte ein Ende haben. Zuerst streikten sie, einige Tage
       später verließen die Arbeiter Göttingen. Übergroße Schwarz-Weiß-Fotografien
       am Container zeugen vom „Protestmarsch nach Griechenland“: Menschenmassen
       bepackt mit Koffern und Taschen sind zu sehen. Die Bilder und Zeichnungen
       sind Mahnmale gegen menschenunwürdige Verhältnisse.
       
       Hier, am Bahnhof, dem gemauerten Symbol für Mobilität, Reisen und Hektik,
       beginnt einigermaßen unauffällig die Göttinger Ausstellung „Movements of
       Migration“. Etlichen Passanten strömen an diesem Tag in Richtung Innenstadt
       an dem Stahlkubus vorbei. Kaum einer hält inne, bleibt stehen, schenkt dem
       Container einen Blick.
       
       Monatelang haben Studenten der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie
       in Archiven geforscht, Zeitzeugen interviewt und mit Mitarbeitern von
       Behörden und Firmen geredet. Am Ende entstand eine umfangreiche
       [1][Ausstellung über Migration in Göttingen]. Es ist die erste ihrer Art.
       Und: Sie zieht sich vom Bahnhof mehrere Straßen bis an das andere Ende der
       Innenstadt.
       
       ## Neues Denken erforderlich
       
       Für Sabine Hess entstand mit dieser Sammlung migrantischer Erfahrungen eine
       „erinnerungspolitische Antwort“. Die Professorin der Kulturanthropologie
       leitete in den vergangenen Semestern das Projekt. „Die Aufarbeitung der
       neueren Migration ist seit 1945 kaum vorhanden“, bemängelt sie. „Die
       Geschichte der Migration darzustellen, ist eine radikale Herausforderung,
       die ein Neudenken erfordert“, sagt Hess. Und Voraussetzung, um am Ende ihr
       Ziel umsetzen zu können: die Geschichte einer Stadt anhand der Migration zu
       erzählen.
       
       Fast jeder fünfte Göttinger hat einen Migrationshintergrund, sie kommen aus
       172 Nationen. Und doch seien ihre Erlebnisse und Erfahrungen, Probleme und
       Hoffnungen zu wenig präsent. Hess und ihr Team aus Forschern und Künstlern
       wollen nicht nur eine Seite der Medaille zeigen – bei ihnen hat die
       Medaille unendlich viele Seiten.
       
       ## Mühsame Flucht
       
       Eine Installation an einer großen Pappwand zum Beispiel zeigt die mühsame
       Flucht eines Syrers aus seiner Heimat. Umwege und Hindernisse prägten seine
       Reise über Istanbul, Athen und Basel bis nach Göttingen zu seinen
       Verwandten. Bei dieser Betrachtung ist Göttingen Bestandteil eines
       komplexen Geflechts von sozialen Netzwerken und geltendem EU-Recht. Auf der
       Rückseite der Wand spielen die Künstler wiederum mit dem Kontrast und
       zeigen eine Collage von touristischen Werbeplakaten aus Reisebüros, mit
       dabei: die Türkei und Syrien.
       
       „Insbesondere Städte haben schon immer eine wechselvolle Geschichte, die
       mit der Migration verbunden ist“, sagt Hess. Die Wissenschaftlerin ist eine
       Frau der klaren Worte. Manchmal wird sie so deutlich, dass sie später
       bittet, die letzten Sätze zu streichen. „Ich finde es unerträglich, wie
       bislang in der Wissenschaft und Öffentlichkeit über Migration geredet
       wird“, sagt Hess. Migration werde oft als Problem behandelt. Oder aus dem
       Blickwinkel des kulturell Besonderen betrachtet. „Sie wird aber selten als
       eine schon immer gesellschaftsprägende und gestaltende Kraft gesehen.“
       
       So verzichtet „Movements of Migration“ auf folkloristische Ausbrüche und
       hangelt sich von Biografie zu Biografie, um am Ende das Bild der
       Gesellschaft puzzleartig zu vergrößern. Als Mittel dienen Installationen im
       Göttinger Künstlerhaus, das Zentrum der Ausstellung ist, aber grundsätzlich
       eher eine Station von vielen auf dem stadtweiten Parcours sein will.
       
       ## Verhaltener Einschnitt
       
       „Wir wollen nicht nur in Kunsträumen sein, sondern zeigen, wie Geschichte
       und Stimmen in den Stadtraum zurückgebracht werden“, sagt Hess. Dorthin, wo
       ihrer Ansicht nach Migration hingehört.
       
       „Movements of Migration“ soll eine Intervention in den öffentlichen Raum
       sein. Streift man nun durch die Göttinger Innenstadt auf den Spuren des
       Parcours, fällt dieser Einschnitt verhalten aus. Kleine Geschäfte sind
       Stationen, auch die Studienzentrale der Uni. Der Gang in geschlossene Räume
       wirkt zuerst wie ein Rückzug.
       
       Doch ist dies auch Teil des Konzeptes: Denn dort, beim Coiffeur Maquillage
       oder beim Imbiss Europic, verschwimmt die geschichtliche Aufarbeitung der
       Migrationserfahrungen mit dem Leben im Hier und Jetzt. Der Betrachter
       betritt privaten Raum und kommt damit mit anderen in Kontakt.
       
       Zum Beispiel mit Kerime Karagöz. Sie stammt aus der Türkei, betreibt seit
       25 Jahren den Friseursalon auf der Goetheallee. Das regelmäßige Schlappen
       ihrer Flip-Flops tönt durch den Raum, als Karagöz Haarbüschel zusammenfegt.
       „Endlich wird über Migranten gesprochen“, sagt sie. Und fügt vehement
       hinzu: „Schließlich sind wir hier!“
       
       Sie unterstützt Hess’ Projekt, hat im Rahmen der Ausstellung ein Buch über
       ihr Leben geschrieben. Direkt am Eingang ihres Salons, neben den
       Illustrierten mit der lächelnden Königin Beatrix, steht nun eine grüne Box
       mit einem Discman. Interviews und Erfahrungsberichte von Migranten sind zu
       hören. Aus Indonesien, Syrien, Griechenland. Stimmen von Menschen, die vor
       Jahrzehnten nach Göttingen kamen. Mit Hoffnung auf einen Neuanfang, aus
       Angst vor politischer Verfolgung in der Heimat. Und deren Leben dann meist
       anders verlief, als geplant.
       
       „Mit dem Projekt wird Migration lebendig“, sagt Karagöz. „Es zeigt, was
       sich alles verändert hat. Aber genauso, was noch vor uns liegt. Schließlich
       wollen wir vollkommen gleichberechtigt behandelt werden, dieselben Chancen
       haben wie andere.“
       
       ## Kampf um Akademiker
       
       Bei „Movements of Migration“ scheint die Auswahl der beteiligten Geschäfte
       auf den ersten Blick etwas einseitig: Dönerläden und Friseure dienen als
       Zeichen migrantischer Selbstständigkeit, doch brechen die Veranstalter an
       der nächsten Ecke damit und der internationale Kampf um akademisches
       Know-how steht im Fokus. Hier zeigt sich Göttingen als die Stadt, die
       Wissen schafft. Mit diesem Slogan wirbt die Stadt offiziell für sich und
       ihre Universität, die weltweit aktiv ist. In der akademischen Welt spricht
       man dann von Internationalisierung; über unzählige Netzwerke finden
       Studenten aus China oder Indien nach Göttingen.
       
       Die Forscher und Künstler zeigen das mit einem schlichten Plakat: Carl
       Friedrich Gauß in der Gestalt des Uncle Sam mit dem deutlichen Spruch „We
       want your Brain“, wir wollen dein Gehirn. Die Ausstellung ist mit einer
       Litfaßsäule im Herzen der Stadt angekommen, auf dem Göttinger Marktplatz.
       Jahrhunderte alte Fachwerkhäuser prägen dort das Bild der Stadt, an vielen
       hängen marmorne Platten mit Namen bekannter Persönlichkeiten, die in jenen
       Häusern gelebt haben.
       
       „Movements of Migration“ will nichts beschönigen, es will auch nichts
       verstecken. Was es schon will: anklagen. Der ausgestreckte Zeigefinger
       begleitet auf dem Parcours. Als Warnung und Kritik zugleich. Warnen, um
       nicht wieder in alte Denkmuster zurückzufallen; kritisieren, um all das zu
       zeigen, was von Seiten der Politik, Unternehmen oder auch der Universität
       im Argen lag und liegt.
       
       ## Panik vor kritischen Tönen
       
       So sind Hess und die anderen Forscher bei der Stadt während der Recherchen
       auf Unverständnis gestoßen. „Hätten wir uns auf positive Beispiele
       beschränkt, wäre bestimmt mehr Geld geflossen“, sagt sie. Sie vermied es
       dennoch, integrationspolitische Ansätze in das Konzept einzubauen. Die
       Wissenschaftlerin berichtet von der durchweg zögerlichen Unterstützung der
       Behörden. „Es gibt hier eine Panik vor kritischen Tönen“, sagt Hess und
       redet sich wieder in Rage.
       
       Alte Akten, Fotos, Dokumente von Behörden und Firmen seien oft vernichtet
       worden. Ob es an den Jahrzehnten liegt, die mittlerweile vergangen sind,
       oder es andere Gründe hat, wissen sie nicht genau. Die Gruppe war deswegen
       auf private Sammlungen angewiesen. „Viele hätten dabei nicht gedacht, dass
       ihre Geschichte ausstellungswürdig ist.“
       
       Im Falle des griechischen Arbeiterkampfes in den 1960er-Jahren mussten die
       Forscher bis nach Athen fliegen, um Informationen zu bekommen. Die
       Holzfirma will von den Protesten nichts mehr gewusst haben. Und die Akten
       der Verwaltung waren längst geschreddert. Auch diese Schwierigkeiten bei
       der Aufarbeitung sind im Comic am Bahnhof verarbeitet. Und verstärken das
       Unbehagen.
       
       ## Noch bis zum 30. 3. können Interessierte den Ausstellungsparcours in
       Göttingen zwischen Bahnhof und Wilhelmsplatz erkunden. Zentrum der
       Ausstellung ist das Künstlerhaus, Gotmarstraße 1.
       
       18 Mar 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.movements-of-migration.org
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christopher Piltz
       
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