# taz.de -- Die Wahrheit: Der greise Prinz
       
       > Ein Kinderstar wird 70. So leicht wie in den ersten Jahren sollte das
       > Leben der kleinen Prinzen später nie mehr verlaufen. Die Geschichte eines
       > erschütternden Absturzes.
       
 (IMG) Bild: Als der kleine Prinz noch klein war: Da war noch alles gut.
       
       Er sitzt in seinem speckigen Ohrensessel und starrt teilnahmslos ins Leere.
       Sein spärliches weißes Haar hängt verfilzt an den Seiten herab. Er hat
       Augenringe bis zu den Knien und aus seinem halb geöffneten Mund mit
       schwärzlichen Zahnstumpen zieht sich ein Speichelfaden bis zum Kinn. Die
       Finger mit den langen gelben Nägeln zittern und sind an der rechten Hand
       von Nikotin verfärbt.
       
       Er trägt einen durchlöcherten Bademantel und eine ausgebeulte Pyjamahose.
       Offensichtlich hat er es schon lange aufgegeben, sorgfältig seine
       Morgentoilette zu begehen. In dem abgedunkelten Raum riecht es nach Urin,
       Schweiß und kaltem Tabakrauch. Auf dem kleinen Tisch steht zwischen
       verkrusteten und verschimmelten Essensresten eine fast leere Flasche
       Goldbrand.
       
       „Der kleine Prinz“, wie man ihn in seinen Kindertagen nannte, feiert heute
       seinen 70. Geburtstag, doch es herrscht keine freudige Stimmung. Wir sind
       die einzigen Gäste in dem spartanisch eingerichteten 1-Zimmer-Appartement.
       Als einziger Schmuck hängt an einer vergilbten Wand die naive
       Kinderzeichnung einer Rose. Wir bekommen Beklemmungen. Endlich, nach einer
       unendlich erscheinenden Weile, scheint der jetzt alte Prinz uns
       wahrzunehmen. Mit einem traurigen und entschuldigenden Blick nimmt er einen
       tiefen Zug aus der Flasche Goldbrand. Dann beginnt er zu erzählen:
       
       „Wissen Sie, ich trinke nur, um meine Trunksucht zu vergessen. Es ist hart,
       in sehr jungen Jahren zu Weltruhm zu gelangen und dann mit dem Älterwerden
       in Vergessenheit zu geraten.“ Wir schauen verlegen zu Boden, denn wir
       wissen nicht, was wir dem ehemaligen Kinderstar sagen sollen, wie wir ihn
       trösten können.
       
       1943 erschien der Sechsjährige plötzlich wie eine leuchtende Supernova am
       Literaturhimmel und rührte ein Millionenpublikum zu Tränen, machte die
       Menschen auf der ganzen Welt mit seiner hinreißenden, wunderschönen, aber
       auch tieftraurigen Geschichte von Liebe, Freundschaft und Menschlichkeit
       glücklich. Doch mit dem Ruhm und der großen Öffentlichkeit kamen auch die
       Probleme: der erste Alkoholrausch mit neun Jahren, als Zehnjähriger den
       ersten Joint geraucht. Mit zwölf das erste Mal Kokain geschnupft, ein Jahr
       später süchtig. Noch mit 13 der erste Selbstmordversuch, diesem folgten
       dann ein Aufenthalt in einer Nervenklinik, diversen Therapien und
       Entziehungskuren.
       
       ## Dealer und Callboy
       
       Für kurze Zeit schien es danach wieder aufwärts zu gehen. Der kleine Prinz
       fasste neuen Mut und wollte ein Comeback starten. Weniger verträumt wollte
       er wirken, erwachsener, stärker und zielstrebiger. Doch das umgekrempelte
       Image kam nicht gut an bei den Fans, und der kleine Prinz rutschte schon
       bald in die Bedeutungslosigkeit ab. Er hielt sich eine Weile mit
       Gelegenheitsjobs über Wasser, musste sich schließlich aber sogar als Dealer
       und Callboy versuchen.
       
       Als er dies erzählt, zuckt das rechte Auge des heute greisen Prinzen kurz
       zusammen, und es scheint fast, als versuche er, eine Träne zurückzuhalten.
       Mit dem letzten Rest Körperbeherrschung gelingt es ihm. „Dann kam der
       Knast“, fährt er fort, „30 Jahre wegen Drogenhandel in Südamerika!“ Diese
       Zeit hat ihn hart gemacht, hart und bitter. Er zeigt die verblasste
       Tätowierung auf seinem faltigen linken Oberarm. Die Haut wirkt wie
       Pergament, und man kann kaum etwas erkennen. „Ein Säbel und eine Granate“,
       klärt er auf, „die Zeichen meiner Gang im Bau.“
       
       Nach seiner Entlassung erkannte den Prinzen auf der Straße niemand mehr,
       sein Ruhm war vollends verflogen. Ohne Geld und Bleibe blieb ihm nur der
       Weg zum Sozialamt. Er bekam diese Wohnung zugewiesen und einen Betreuer,
       der einmal im Monat nach ihm sieht und ihm eine Kiste Schnaps vorbeibringt.
       So geht das nun seit 20 Jahren. Nicht einmal hat er in dieser Zeit das Haus
       verlassen, die unbändige Reiselust aus seiner Jugend ist nur noch eine
       schattenhafte Erinnerung. Wie er so existieren könne, wollen wir wissen. Er
       schweigt lange. „Ich lebe von Luft und Liebe“, sagt er schließlich mit
       sarkastischem Ton. Doch in Wahrheit lebt er von dem, was andere in den Müll
       werfen.
       
       Die Flasche Goldbrand hat er nun geleert und ist röchelnd in einen
       unruhigen Schlaf gefallen – noch bevor wir ihm seinen Geburtstagskuchen
       geben konnten. Wir stellen das asteroidenförmige Gebäck auf einen morschen
       Schemel. Einen letzten Blick werfen wir auf den Prinzen und müssen an seine
       Worte aus besseren Tagen denken: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das
       Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Ja, schön wär’s.
       
       6 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Gückel
 (DIR) Corinna Stegemann
       
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