# taz.de -- Zeitzeugin über den Nationalsozialismus: „Danach war unser Vater weg“
       
       > Elfie Buth wohnt seit 86 Jahren in Hamburg-Eimsbüttel. Nun hat sie mit
       > dem Journalisten Martin Kempe ein Buch über ihr Leben herausgebracht.
       
 (IMG) Bild: Erlebte die Verhaftung ihres Vaters im Nationalsozialismus: Elfie Buth.
       
       taz: Frau Buth, wie kamen Sie darauf, Ihre Geschichte zu erzählen? 
       
       Elfie Buth: Der Auslöser war Georg, ein Nachbarssohn. Er war 13 und sollte
       ein Praktikum bei älteren Leuten machen. Er kam auf die Idee, zu mir zu
       kommen. Er hat Fragen gestellt: Wie war das damals? Sie hatten zu der Zeit
       das Thema Nationalsozialismus in der Schule. Ich sagte ihm, du kannst doch
       deine Oma fragen. „Ne, die sagt nichts.“ So kamen Georg und ich ins
       Gespräch.
       
       Was haben Sie ihm erzählt? 
       
       Ich habe ihm von mir erzählt. Ich habe ihm auch die Anklageschrift meines
       Vaters gezeigt.
       
       Ihr Vater war in der KPD politisch aktiv und wurde im Mai 1933 verhaftet. 
       
       Es war für Georg etwas ganz Besonderes, die Anklageschrift in Händen zu
       halten. Das hat er dann wieder zu Hause erzählt. Immer wenn wir uns mit
       Nachbarn im Haus getroffen haben oder im Garten gesessen haben, wurde über
       aktuelle Themen geredet. Und irgendwie habe ich immer Parallelen gefunden
       zu dem, was früher mal passiert war. So kam es, dass ich mehr darüber
       gesprochen habe.
       
       Erinnern Sie sich an die Verhaftung Ihres Vaters? 
       
       Meine kleine Schwester und ich hatten Keuchhusten. Es war eine unruhige
       Nacht, weil eine von uns immer hustete. Draußen war es gar nicht richtig
       dunkel. Man sah einen Lichtschein. Wir wohnten in der vierten Etage im
       Luruper Weg. Meine Mutter stand auf und ging ans Fenster. Dann sagte sie
       nur: „Willi, sie kommen.“ Nur diesen einen Satz.
       
       Was hat Ihr Vater gemacht? 
       
       Mein Vater zog sich an. In diesem Moment knallte es fürchterlich an unserer
       Wohnungstür. Vater machte auf. Wie ein Bienenschwarm – so empfand ich es
       mit fünfeinhalb – kam da etwas in unsere Wohnung rein. Mindestens zu viert
       waren sie und in Uniform. Meine Mutter hatte meine Schwester auf dem Arm,
       die schrie. Ich stieg aus dem Bett. Dann nahm einer die Matratze hoch und
       zog mein Bettzeug weg.
       
       Konnten Sie sehen, was draußen los war? 
       
       In der Straße standen offene Lastwagen. Überall aus den Häusern zwischen
       Methfesselstraße und Sartoriusstraße kamen Männer und mussten auf die
       Lastwagen rauf. Das Lichtflackern kam von riesengroßen Scheinwerfern, die
       auf Dächern in der Methfesselstraße Ecke Luruper Weg standen. Sie
       erleuchteten den ganzen Luruper Weg. Das hatte meine Mutter aufgeweckt. Wir
       hatten eine Waschkommode, und einer der Männer zog die Schublade auf und
       wühlte in der Wäsche rum. Der andere sagte zu ihm „Nun lass mal.“ Dann sind
       sie gegangen, und danach war unser Vater weg. Unser Gemüsehändler, der drei
       Häuser weiter wohnte, war auch weg. Ganz viele Männer waren weg. Plötzlich
       waren die Väter nicht mehr da.
       
       Wie groß war die Unterstützung für die Nazis im Viertel? 
       
       Niemand, der zu uns kam, hat mit „Heil Hitler“ gegrüßt. Auch in der Straße,
       im Luruper Weg, ist mir nie aufgefallen, dass Leute sich mit „Heil Hitler“
       gegrüßt hätten. Auch beim Krämer oder beim Gemüsemann sind die Frauen nicht
       mit dem Hitlergruß reingekommen. Selbst später nicht. Es gab hier
       verhältnismäßig wenige Nazis. Die Fahnen, die aus den Fenstern hingen,
       gehörten durchweg kleinen Beamten oder Angestellten.
       
       Woran haben Sie die Nazis erkannt? 
       
       Ab 1933 liefen Männer, die man vom Sehen kannte, plötzlich in Uniform
       herum. Das war komisch. Wir hatten einen angeheirateten Onkel, der trug
       immer Uniform. Ich fragte meinen Vater: „Warum läuft Onkel Hermann immer in
       Uniform rum?“ Er war ein kleiner Büroangestellter. Der ging morgens in
       seiner SA-Uniform zur Arbeit und kam abends damit nach Hause. Mein Vater
       antwortete nur: „Der hat wohl keinen anderen Anzug.“
       
       Haben die Nachbarn Ihnen nach der Verhaftung Ihres Vaters geholfen? 
       
       In unserer Straße gab es ein Milchgeschäft. Eines Morgens stand eine
       Flasche Milch vor unserer Tür, auch am nächsten Tag. Meine Mutter wunderte
       sich und fragte den Milchmann: „Bei mir steht immer Milch vor der Tür. Ich
       habe aber keine bestellt.“ – „Doch, das ist schon richtig so“, antwortete
       er. – „Wo kommt die Milch her? Ich kann sie nicht bezahlen“, sagte meine
       Mutter. – „Das ist schon richtig so“ – er wollte es meiner Mutter nicht
       sagen. Aber sie hat es rausbekommen.
       
       Wer steckte dahinter? 
       
       Wir wohnten in Nummer 19, und in 21 wohnten zwei ältere Damen. Die hatten
       mich und meine Schwester wohl ins Herz geschlossen. Sie hatten die Milch
       bestellt. Es passierte auch, dass Nachbarn meiner Mutter Brot brachten.
       Dabei waren die meisten arbeitslos und hatten selber nicht viel. An der
       Ecke gab es Kröplin, den Kohlenmann. Ich musste einen halben Eimer Kohlen
       in einem Zinkeimer holen. Ich trug den Eimer vor dem Bauch. Ich weiß, dass
       da immer mehr drin war. Wir bekamen von Leuten auch oft getragene Sachen
       geschenkt.
       
       Wann haben Sie Ihren Vater wiedergesehen? 
       
       Mein Vater kam erst im Sommer 1935 wieder frei. Zuletzt hatte er im
       Konzentrationslager Wittmoor im Moor arbeiten müssen. Die Jahre im
       Gefängnis und KZ haben ihn sehr gezeichnet.
       
       Musste er in den Krieg? 
       
       Zu Beginn des Krieges war er als Kommunist zunächst „wehrunwürdig“. 1943
       wurde aber auch er eingezogen, kam schließlich in das „Bewährungsbataillon
       999“ nach Griechenland, auf die Insel Korfu. Dort hat er sich mit Griechen
       angefreundet und half ihnen, Lebensmittel zu organisieren, unter anderem
       aus einem Magazin in einem Bunker. Danach musste er untertauchen und wurde
       überall auf der Insel mit Steckbrief gesucht. Aber die Griechen haben ihn
       bis Kriegsende versteckt, dann kam er in englische Kriegsgefangenschaft.
       Ende 1946 wurde er entlassen und stand am Neujahrstag 1947 vor unserer Tür.
       
       Wo sind all die Nazis und Mitläufer nach dem Krieg geblieben? 
       
       Die sind alle ihrem Beruf nachgegangen und keiner hatte mehr eine Uniform
       an. Der angeheiratete Onkel Hermann, der immer in Uniform rumlief, fing
       wieder einen Posten am Schlachthof an und begann zu „schieben“. Er kam
       plötzlich zu Wohlstand, hat kistenweise Hähnchen verschoben. Wenn man
       Hähnchen brauchte, sagte man Onkel Hermann Bescheid.
       
       Wie fällt Ihnen heute in Eimsbüttel auf? 
       
       Es wohnen hier viele junge Leute mit Kindern. Ich merke, wie sich die Väter
       verändert haben. Man sieht sie Kinderwagen schieben und mit den Kindern
       spielen. Und in den Cafés sitzen vormittags junge Frauen, trinken Kaffee
       und haben den Kinderwagen dabei. Das war für uns unvorstellbar. Wir hatten
       gar nicht das Geld.
       
       Aber manches hat sich auch nicht verändert? 
       
       Die Willkür bei Hauseigentümern gibt es immer noch. 1937 wurden wir vom
       Vermieter aus der Wohnung geworfen, weil meine Eltern keine Nazis waren.
       Auch heute werden Mieter aus ihrer Wohnung verdrängt. Ich wollte vor Jahren
       in der Lutterothstraße innerhalb des Hauses meine Wohnung gegen eine
       kleinere tauschen. Fünfmal wurde im ersten Stock eine Wohnung frei, aber
       sie haben sie mir nicht gegeben, weil ich mich vorher mit der
       Mietergemeinschaft immer gegen Mieterhöhungen gewehrt hatte. Die Altbauten,
       die hier im Viertel stehen geblieben sind, sind heute wertvoller denn je.
       Ich werde immer älter und bin weniger „wert“, aber das alte Haus, in dem
       ich so viele Jahre gewohnt habe, ist im Wert sehr gestiegen – das hab ich
       dem Hauswirt mal gesagt. Da hat er nur gelacht.
       
       ## Buchvorstellung mit Elfie Buth und Martin Kempe: 16. Mai, 19.30 Uhr,
       Galerie Morgenland, Sillemstr. 79, Hamburg
       
       4 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Enger
       
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