# taz.de -- Obdachlose Stadtführer: Mit anderen Augen
       
       > Stadtführer, die früher obdachlos waren, zeigen ihr Berlin und
       > ermöglichen den Tour-Teilnehmern überraschende Eindrücke.
       
 (IMG) Bild: Einen anderen Blick auf die Stadt hat man, wenn man anders lebt.
       
       „Die Obdachlosen sitzen hier auf der Schattenseite, die Wilmersdorfer
       Witwen da drüben in der Sonne“, erklärt Stadtführer Carsten Voss die
       inoffizielle Sitzordnung im Schöneberger Viktoria-Luise-Park. Bevor es
       weiter zum Wittenbergplatz geht, macht Voss die rund 20 Teilnehmer der
       Pressetour noch mit den Vorzügen des Parks vertraut: Ein Supermarkt mit
       Pfandrücknahme ganz in der Nähe, eine liberale Atmosphäre und die
       Obdachlosentagesstätte nur ein paar Straßen weiter.
       
       Die Stadt mit anderen Augen sehen – darum gehe es bei der Stadtführung
       „Querstadtein – Obdachlose zeigen ihr Berlin“, sagt Johan Wagner. Der
       33-jährige Geschichtsstudent ist einer der Gründer des Vereins
       Stadtansichten. Die fachlichen Hintergründe der 15 Mitglieder sind bunt
       gemischt: Modedesigner, Historiker und Ethnologen haben in Zusammenarbeit
       mit ehemals Wohnungslosen Stadtrundgänge rund um das Thema Obdachlosigkeit
       entwickelt.
       
       ## Begegnung und Austausch
       
       Das Projekt entstand aus dem Wunsch, endlich mal „etwas Konkretes“ zu
       machen, und persönlichen Beobachtungen, erzählt Jochen Wagner: „Obdachlose
       sieht man überall in der Stadt. Nur wirklich begegnen tut man ihnen nicht.“
       Nun soll das Projekt dazu beitragen, einen Raum für Begegnungen und
       Austausch zu schaffen.
       
       Carsten Voss ist einer der ersten Tourguides von Querstadtein. Bis auf eine
       kleine Zahnlücke deutet äußerlich nichts darauf hin, dass der 54-Jährige
       bis vor Kurzem selbst wohnungslos war. Im Gegenteil: In Polohemd und
       Lederslippern sieht Voss aus, als könne er gleich lossegeln. Während er
       zügigen Schrittes durch den Winterfeldt-Kiez vorwärts eilt, erzählt Voss
       seine Geschichte. Vor eineinhalb Jahren erlitt er ein Burn-out, das in eine
       Depression mündete. Der ehemalige Manager eines großen Modeunternehmens
       fiel: raus aus dem Job, raus aus der Wohnung, raus aus seinem Netzwerk,
       raus aus dem System.
       
       Mal wohnte er in einer Gartenlaube, mal schlief er in einer Notunterkunft.
       Um sich zu finanzieren, löste er nach und nach seine gesamten Ersparnisse
       auf. Erst als er bankrott war und sich im Winter in einer ungeheizten Laube
       wiederfand, sei langsam die Erkenntnis gereift, dass es so nicht
       weitergehen könne, erinnert sich Voss. Mit staatlicher Unterstützung
       arbeitete er sich wieder nach oben. Mittlerweile wohnt er wieder in einer
       Wohnung, bezieht Hartz IV und arbeitet als Ehrenamtlicher in der
       Obdachlosentagesstätte, in der er früher selbst Hilfe bekam, und nun auch
       als Tourguide. Warum er die Tour mache? „Ich möchte mich daran erinnern,
       wie es nie mehr werden soll“, sagt er nachdenklich. Zudem treibe ihn auch
       die Hoffnung an, den TeilnehmerInnen zu einem Perspektivwechsel zu
       verhelfen.
       
       Zur Zahl der Obdachlosen in Berlin gibt es nur vage Schätzungen. Der Senat
       geht von bis zu 4.000 Betroffenen aus, die Caritas hingegen schätzt, dass
       im Jahr 2010 mindestens 11.000 Menschen in Berlin obdachlos waren. Die
       Gründe sind vielfältig. Meist sind Männer zwischen 40 und 50 Jahren
       betroffen, die durch eine Trennung oder Arbeitslosigkeit den Boden unter
       den Füßen verlieren.
       
       ## Erkenntnisse anwenden
       
       Die Tour ist am Wittenbergplatz angekommen, und eine Teilnehmerin versucht,
       die neu gewonnenen Erkenntnisse gleich anzuwenden: Ein offenbar obdachloser
       Mann liegt reglos auf einer Bank. Ob man den jetzt einfach ansprechen
       könne, erkundigt sich die Frau bei Voss. „Natürlich“, antwortet der und
       fragt den Mann, ob er in Ordnung sei. „Haste mal ’nen Euro?“, raunzt der
       vermeintlich Hilflose zurück. Voss lächelt. Achtsamkeit sei wichtig, sagt
       er: „Wenn Sie das Gefühl haben, jemand braucht Hilfe, sprechen Sie ihn
       bitte an.“
       
       Mit der U-Bahn geht es weiter zum Bahnhof Zoo. „Früher wie heute
       Prostitution und Drogen. Daran hat sich nichts geändert“, kommentiert Voss
       trocken, während er die Teilnehmer zur Rückseite des Gebäudes führt.
       Wichtig für die Obdachlosen sei der Zoo wegen der Bahnhofsmission, erklärt
       er. Dort will er aber nicht hinein – denn die Tour soll nicht voyeuristisch
       werden.
       
       Vorbei an dem bei Obdachlosen und Flaschensammlern beliebten Supermarkt
       „Ullrich“ und dem Luxushotel Waldorf Astoria gegenüber geht es schließlich
       zur letzten Station der Tour: der Gedächtniskirche. Obdachlose, sagt Voss
       hier, würden oft von öffentlichen Plätzen verdrängt – „um die Touristen
       nicht zu vergraulen“, vermutet er. Trotz solcher Gängelung sei Berlin aber
       generell eine Stadt, die viel Hilfe für Obdachlose anbiete.
       
       Was ihm rückblickend von seiner Zeit auf der Straße geblieben sei? Zwei
       gute Freunde, sagt Voss – und die Erkenntnis, dass es wichtig sei, da
       hinzuschauen, wo es nottut.
       
       28 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gesa Steeger
       
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