# taz.de -- Gezi-Zelt: Die Trauer schweißt zusammen
       
       > Seit drei Wochen zeigt eine Initiative am Kottbusser Tor Solidarität mit
       > den Türkei-Protesten. Sogar Kurden lassen sich blicken. Ein Zelt für
       > viele Leute und Themen.
       
 (IMG) Bild: "Ich bin auf einem langen und schmalen Pfad" - mit der ersten Zeile eines türkischen Gedichts grüßt ein Flashmob am Kotti die Aufständischen vom Gezi-Park
       
       Es ist ein regnerischer Nachmittag in Kreuzberg, wieder haben sich Menschen
       um das Gezi-Zelt am Kottbusser Tor versammelt. Sie sitzen auf Bierbänken,
       einige halten schützend Regenschirme über ihre Köpfe. Es hallt der Klang
       eines kurdischen Volkslieds auf dem Platz, gesungen von einer Frau mit
       dunklen lockigen Haaren, die Melodie ist traurig, die Stimmung gedrückt.
       „Ihr werdet Rechenschaft ablegen müssen“, tönt es zwischendurch aus dem
       Verstärker. Gemeint ist die türkische Regierung.
       
       Die Aktion ist eine Reaktion auf die aktuellen Ereignisse in der Türkei.
       Beklagt wird der Tod von Medeni Yildirim, der vergangenen Freitag in Lice,
       einem Ort in der ostanatolischen Provinz Diyarbakir, von Gendarmen getötet
       wurde. Der 18-Jährige Yildirim war unbewaffnet und protestierte gegen den
       Bau einer Polizeiwache in seinem Heimatort, der mehrheitlich von Kurden
       bewohnt wird.
       
       ## Unerwartete Wendung
       
       Seit knapp drei Wochen treffen sich nun täglich Menschen am grauen Zelt am
       Kotti, dass provisorisch als Solicamp eingerichtet wurde, um sich mit der
       Protestbewegung in der Türkei zu solidarisieren. So wollten an diesem
       Wochenende die Menschen ursprünglich den fünf Todesopfern der Gezi-Proteste
       gedenken. Besonders der Fall von Ethem Sarisülük hatte für Empörung in der
       Bevölkerung gesorgt, denn der 26-Jährige wurde am 1. Juni bei einer
       Kundgebung in Ankara mit einem Kopfschuss von einem Polizisten getötet, der
       inzwischen wieder auf freiem Fuß ist.
       
       Doch mit dem Tod von Medeni Yildirim nimmt die Protestbewegung eine bisher
       unerwartete Wendung. Bis auf vereinzelte Unterstützer, wie Sirri Süreyya
       Önder, BDP-Abgeordneter der kurdischen Partei des Friedens und Demokratie,
       gab es keine breite offizielle Unterstützung für die Gezi-Proteste. In
       einer Erklärung des Kurdischen Volksrats Berlin, die am Samstag am
       Gezi-Zelt verbreitet wurde, heißt es, dass die kurdische Freiheitsbewegung
       zwar immer den demokratischen Charakter der Gezi-Bewegung anerkannt und im
       Geiste unterstützt, man sich aber nach außen mit Solidaritätsbekundungen
       zurückgehalten habe, da man sich kurz zuvor mit der Erdogan-Regierung auf
       Friedensgespräche eingelassen hatte.
       
       Nun aber scheint der Tod von Yildirim den sogenannten Kurdenkonflikt erneut
       zu entfachen – und viele sehen die Chance, dass die Gezi-Protestbewegung,
       bei der es längst um mehr als Umweltschutz geht, gestärkt werden kann durch
       einen breiteren Zulauf aus der kurdischen Bevölkerung. Auch Kamber Erkocak,
       ein Aktivist vom Gezi-Zelt, ist zuversichtlich und glaubt, dass die
       unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Bewegung mit der Zeit
       zusammenwachsen können. „Es ist das erste Mal, dass so etwas in der
       Geschichte der Türkei passiert. Mit der Zeit werden sie sich schon
       aneinander gewöhnen“, sagt er und lächelt bedeutungsvoll, weil er damit
       offenbar nicht nur die Menschen, sondern auch die Demokratie meint.
       
       ## Keine Hierarchie, kein Chef
       
       Erkocak, der regelmäßig im Gezi-Zelt ist, manchmal 12 bis 14 Stunden am
       Tag, erklärt: „Ja, die Arbeit leidet darunter, aber das hier ist im Moment
       wichtiger.“ Der 50-jährige Istanbuler lebt seit 2006 in Berlin und
       arbeitete in seiner Heimatstadt für den Türkischen Menschenrechtsverein
       (IHD), bis er als politischer Flüchtling nach Deutschland kam. „Natürlich
       wäre ich lieber in Istanbul, aber das wird so bald nicht möglich sein“, so
       der Menschenrechtler. Er scheint viele Repressionen erlebt zu haben, fällt
       aber sehr mit seiner optimistischen und sanften Art auf. Immer wieder
       erklärt er geduldig, wie die Idee zum Zelt entstanden ist oder wie alles
       organisiert wird.
       
       24-Stunden am Tag besetzt, dient das Zelt als Anlauf- und
       Informationsstelle. Für Interessenten gibt es Schichtlisten, in die man
       sich eintragen kann. Initiiert wurde das Camp von einem breiten Bündnis aus
       linken Organisationen wie Bedep, Antifa, türkischen und deutschen
       kommunistischen Parteien, aber auch von vielen Einzelpersonen. „Es gibt
       hier keine Hierarchie und auch keinen Chef“, erklärt Turhan Gülveren, ein
       weiterer Aktivist. Im Prinzip könne sich jeder einbringen, die einzige
       feste Struktur sei das sogenannte Zeltkomitee, zu dem Gülveren gehört und
       das sich mehr um Organisatorisches kümmert.
       
       „Ursprünglich wollten wir so lange bleiben, wie die Taksim-Bewegung hält“,
       so Erkocak. Inzwischen sei das Zelt aber auch ein Anlaufpunkt für viele
       andere Menschen. Brasilianer, Griechen und Spanier würden das Zelt nutzen,
       und neben den Gezi-Protesten würden inzwischen auch andere Themen wie etwa
       steigende Mieten, Rassismus oder Hartz IV besprochen. Auch wenn die
       Gezi-Proteste derzeit im Fokus des Protestcamps sind: im Bestreben nach
       Demokratie „sei es nicht wichtig, wo man lebt, sondern wie man lebt“.
       
       30 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Canset Icpinar
       
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