# taz.de -- Proteste in der Türkei: In der Höhle des Tigers
       
       > Aufstrebend, fromm, konservativ: Das zentralanatolische Kayseri gilt als
       > Hochburg der Erdogan-Partei AKP. Doch es gibt Ausnahmen.
       
 (IMG) Bild: Kernland der AKP: Blick über Kayseri.
       
       KAYSERI taz | Der Weg ins Hauptquartier des Widerstands führt durch ein
       Fischgeschäft. Der Laden liegt an der Sivasstraße, unweit des zentralen
       Cumhuriyetplatzes. „Allah sei Dank, die Geschäfte laufen gut“, sagt der
       Ladenbesitzer Osman Bey. Ein freundlicher Mensch – aber womöglich ist die
       Freundlichkeit auch nur dem Geschäftssinn geschuldet.
       
       Auf seine Nachbarn im dritten Stock ist Osman Bey jedenfalls nicht gut zu
       sprechen. „Die laufen jeden Tag grußlos durch meinen Laden, das gehört sich
       nicht“, sagt er. „Und bei ihren Demonstrationen haben diese jungen Leute
       Steine auf die Polizei geworfen und Eigentum zerstört, das finde ich
       falsch.“ Die jungen Leute, die er meint, gehören dem 2006 gegründeten
       Türkischen Jugendverband TGB an, dessen Büro sich im dritten Stock des
       Gebäudes befindet. Und noch etwas missfällt Osman Bey: „Da gehen junge
       Frauen und Männer zusammen ein und aus, so was sind wir hier in Kayseri
       nicht gewohnt.“
       
       Denn Kayseri, das ist Kernland von Recep Tayyip Erdogans AKP, der Partei
       für Gerechtigkeit und Entwicklung. Staatspräsident Abdullah Gül stammt von
       hier, bei der letzten Parlamentswahl erhielt die AKP 64,9 Prozent. Nach den
       Veranstaltungen in Ankara und Istanbul hielt Erdogan hier in Kayseri seine
       dritte [1][Massenkundgebung] unter dem Motto „Respekt vor dem nationalen
       Willen“ ab.
       
       Die in Kappadokien, etwa 300 Kilometer südöstlich von Ankara gelegene Stadt
       war schon in der Bronzezeit Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum. Kayseri
       ist berühmt für seinen luftgetrockneten Rinderschinken, seine aus
       seldschukischer Zeit stammenden Moscheen, für den Erciyes-Berg, der fast
       4.000 Meter über der Stadt thront und dessen Gipfel noch im Hochsommer mit
       Schnee bedeckt sind. Und Kaysei ist berühmt für seine Bewohner, die als
       geschäftstüchtig, ja gerissen gelten. Eine von vielen Anekdoten, die
       Auskunft über diese ihre Charaktereigenschaften geben sollen, geht so:
       Fragt jemand einen Mann aus Kayseri: „Was macht zwei mal zwei?“ Fragt der
       Mann aus Kayseri zurück: „Beim Kaufen oder beim Verkaufen?“
       
       ## Marx oder Guevara
       
       Auch die sieben jungen Leute – eine Frau, sechs Männer –, die an diesem
       Nachmittag in den Vereinsräumen des TGB über Osman Beys Fischgeschäft
       sitzen, erzählen solche Anekdoten. Aber eigentlich schätzen sie die
       Geschäftstüchtigkeit ihrer Mitbürger nicht. Sie sind Sozialisten,
       jedenfalls die meisten von ihnen. Dabei ist für sie nicht Marx oder Guevara
       der große Held, sondern der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.
       
       Die TGB steht im Ruf, der linksnationalistischen Arbeiterpartei IP
       nahezustehen, was sie aber vehement bestreitet. Nicht bestreiten lassen
       sich die ideologischen Überschneidungen. Beide Organisation sind dabei,
       wenn es gilt, gegen die EU oder den „US-Imperialismus“ zu demonstrieren.
       Beide lehnen die Aussöhnung mit der PKK strikt ab und stimmen laut ein,
       wenn es darum geht, den Völkermord an den Armeniern zu leugnen. Die
       Anführer beider Organisationen sitzen wegen Beteiligung an putschistischen
       Verschwörungen in Haft.
       
       „Was ist an denen links?“, fragen andere türkische Linke. Für den
       TGB-Ortsvorsitzenden Aykut sind das „Pseudolinke, die Verrat an den
       nationalen Werten begehen“. Der 22-Jährige studiert Bauingenieurwesen.
       Unauffälliger Kurzhaarschnitt, Dreitagebart, offenes Karohemd über dem
       T-Shirt. Nicht zu bieder, nicht zu rebellisch.
       
       ## Alkohol nur im Hilton
       
       Aykut spricht ruhig und entschlossen, ein verhinderter Volkstribun. Wo er
       sich selbst politisch sieht? „Ich bin Sozialist, aber ich glaube, dass die
       Kategorien ’links‘ und ’rechts‘ im Moment keine Rolle spielen. Ich stehe zu
       allen, die die Republik Atatürks neu gründen wollen, und bekämpfe jeden,
       der einen anderen Staat möchte.“
       
       Einen Staat, wie ihn die AKP in Kayseri im Kleinen bereits aufgebaut hat:
       wirtschaftlich entwickelt, in einem technizistischen Sinne modern, sauber
       und fromm. Etwas protzig, ziemlich geschmacklos und sehr langweilig.
       
       Dabei kann man der Stadt eines nicht absprechen: Sie hat sich in den
       vergangenen zehn Jahren immens entwickelt. Lebten im Jahr 2000 eine halbe
       Million Menschen in Kayseri, sind es inzwischen doppelt so viele. Kayseri
       ist eine Hochburg der „anatolischen Tiger“, der islamischen
       Kapitalfraktion, zu der international tätige, aber meist in Familienbesitz
       befindliche Mischkonzerne wie Has, Narin und Boydak gehören. „Muslimische
       Calvinisten“, hat die [2][New York Times] sie mal genannt, was sie, wie
       etwa der Großindustrielle Mustafa Boydak, beteuert, als Auszeichnung
       empfinden.
       
       ## Anatolischer Barock
       
       „Als Muslim fühle ich mich meinen Glaubensbrüdern beispielsweise in
       Saudi-Arabien verbunden. Meine Lebenseinstellung aber gleicht ansonsten
       Unternehmern in den USA und in Europa. Ich predige meinen Kindern, dass sie
       hart arbeiten müssen, um Erfolg zu haben“, sagt der smarte 50-jährige in
       seiner privaten Suite in der obersten Etage seiner Firmenzentrale, die mit
       demselben anatolischen Barock möbliert ist, den seine Firma trotz der
       wachsenden Konkurrenz durch Ikea im ganzen Land massenweise verkauft.
       
       Boydaks Möbel- und Kabelfabriken sind auf die sechs Industriegebiete von
       Kayseri verteilt; das größte davon ist auch das größte der Türkei. Auch
       wenn die meisten dieser Fabriken die meist aus dem anatolischen Umland
       zugezogenen Arbeitern lediglich den gesetzliche Mindestlohn von umgerechnet
       400 Euro brutto zahlen, merkt man der Stadt den neuen Wohlstand an.
       
       Ein halbes Dutzend Einkaufszentren beherbergt das überaus saubere
       Stadtzentrum. Das öffentliche Leben endet um zehn, wenn der Muezzin zum
       Gebet ruft. Und in ganz Kayseri gibt es nur einen Ort, an dem Alkohol
       ausgeschenkt wird: das Hilton Hotel mit dem „City Pub“ im Erdgeschoss und
       einer Bar im 12. Stock, wo ein Bier 6 Euro kostet. Alkohol auszuschenken
       sei nicht verboten, beteuern örtliche AKP-Größen, es gäbe nur keine
       Nachfrage. „Die Leute hier trinken zum Fisch keinen Raki, sondern
       Rübensaft“, sagt auch Fischhändler Osman Bey. Die jungen Leute vom TGB
       sagen dagegen: „Man bekommt entweder keine Schanklizenz, oder die
       Verwaltung macht einem das Leben so lange schwer, bis man aufgibt.“
       
       ## 5.000 Demonstranten
       
       An anderer Stelle gedeiht Kayseri umso besser: Es gibt einen
       internationalen Flughafen, eine nagelneue Straßenbahn, ein modernes
       Fußballstadion, ein technisch aufgemotztes Stadtmuseum und eine vierte
       Universität, die 2014 eröffnen soll. Ihr Name: Abdullah-Gül-Universität.
       
       Eines aber hat Kayseri seit den siebziger Jahren nicht mehr erlebt:
       Studentenproteste. „Unser Protest war der erste seit langer Zeit“, erzählt
       Yusuf stolz. Mit 28 ist er, der bereits arbeitet und nicht mehr studiert,
       der Älteste in dieser Runde. „Am ersten Abend haben sich die Menschen im
       Studentenviertel Talas zusammengefunden. 500 waren es am Ende. Wir hatten
       keine Ahnung, wie man demonstriert. Und die Polizei auch nicht. Ich glaube,
       die wussten selbst nicht, dass sie in der Garage Wasserwerfer haben. Na ja,
       die haben sich dann an Istanbul orientiert und uns direkt mit Reizgas und
       Wasserwerfern angegriffen.“
       
       Am 2. Juni demonstrierten laut TGB 5.000 Menschen in Kayseri –
       Gewerkschafter seien dabei gewesen, Anhänger der sozialdemokratischen CHP,
       aber auch zuvor unpolitische oder eher liberale Studenten. Als ein Teil der
       Menge vor das örtliche AKP-Büro ziehen wollte, habe die Polizei die
       Menschen mit Gewalt auseinandergetrieben. Danach habe der TGB beschlossen,
       in einem Innenstadtpark ein Zeltlager zu errichten.
       
       ## 17 Tage dauercampen
       
       Inzwischen sind die Zelte wieder abgebaut. Die Decken und Kissen türmen
       sich in einer Ecke der Vereinsräume. „17 Tage haben wir durchgehalten. Aber
       am Ende wurden wir immer weniger“, sagt Aykut.
       
       Und warum das alles? „Diese Regierung handelt so, als würde das ganze Land
       ihr gehören. Überall postieren sie ihre Leute, die das Land ausplündern.“
       Was Aykut nicht sagt: Für seinen Jugendverband hat sich das Ganze gelohnt,
       vier der sieben Leute aus dieser Runde fanden über die Proteste ihren Weg
       zum TGB.
       
       Zum Beispiel Tahsin. „Niemand hat das Recht, Atatürk als Trunkenbold zu
       bezeichnen“, erläutert er seine Gründe. Er meint damit ein Wort von
       Erdogan, das viele auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bezogen
       haben. Dann ergänzt er mit heiligem Ernst: „Wir sind die Soldaten von
       Mustafa Kemal.“ Mit seinem Kinnbart, den langen Haaren und der grünen
       Trainingsjacke wirkt der 22-jährige Maschinenbaustudent alles andere als
       soldatisch. Wie er das meint? „Wir kämpfen für Atatürks Prinzipien. Das
       unterscheidet uns von allen Pseudolinken.“
       
       ## Einmischung gewohnt
       
       Mit einem Langhaarigen wie Tahsin hätte Mehmet bis vor Kurzem noch kein
       Wort gewechselt. Der 24-Jährige ist eigentlich Mitglied der
       „Idealistenvereine“, der Jugendorganisation der rechten MHP, auch als Graue
       Wölfe bekannt. „Aber als ich gesehen habe, wie diese Regierung im Gezi-Park
       junge Menschen verprügeln ließ, während sie gleichzeitig den kurdischen
       Terroristen die Hand reicht, habe ich es nicht mehr ausgehalten und mich
       den Protesten angeschlossen.“
       
       Ein Argument, das Gleichaltrige in Istanbul oder Ankara für ihre Proteste
       häufig anführen, fällt in diesem Kreis nicht: der Vorwurf, die Regierung
       würde sich in den Lebensstil ihrer Bürger einmischen. „Das liegt wohl
       daran, dass wir Einmischung von Fremden gewohnt sind“, sagt Elif. Sie ist
       22, studiert Jura und fährt gern zu Auswärtsspielen von Galatasaray. „Ich
       werde schon mit diesen Spaghettiträgern scheel angeschaut. Arm in Arm mit
       einem Mann durch die Straßen zu laufen ist kaum möglich, sich öffentlich
       küssen absolut ausgeschlossen.“
       
       Und was machen sie, wenn sie nicht gerade im Stadtpark zelten? „Meistens
       sitzen wir zu Hause am Computer“ erzählt Elif. Nur gelegentlich, wenn sie
       Geld hätten, führen sie nach Ürgüp.
       
       Ürgüp ist ein Touristenort nahe den Felsenhöhlen von Göreme. „Da ist es
       fast so frei wie an der Küste“, meint Elif. „Mit einer Ausnahme“, ergänzt
       Yusuf. „Es gibt nicht nur Clubs und Bars für Touristen und Leute wie uns,
       sondern auch pavyons, die reiche Männer aus der Umgebung besuchen.“ Pavyons
       sind Etablissements mit Alkohol, Livemusik und einer ebenso schlüpfrigen
       wie bedrückenden Atmosphäre. „Es ist schon lustig, wenn wir dort plötzlich
       Männern begegnen, die uns in Kayseri totprügeln würden, weil wir mit einem
       Bier in der Hand durch die Stadt laufen. So fromm, wie die hier alle immer
       tun, sind die auch wieder nicht.“
       
       1 Jul 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /!118237/
 (DIR) [2] http://www.nytimes.com/2006/08/27/world/europe/27turkey.html?pagewanted=all&_r=1&
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Deniz Yücel
       
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