# taz.de -- Ausstellung des Ungeschmacks: Vergewaltigtes Material
       
       > Weil der Geschmack keine Geschmackssache sei, entwarf Gustav E. Pazaurek
       > 1909 Kriterien dafür. Eine Ausstellung in Hamburg versammelt, was gar
       > nicht geht.
       
 (IMG) Bild: Im Kanon der Geschmacklosigkeiten spielen sekundäre Geschlechtsmerkmale eine große Rolle.
       
       HAMBURG taz | Als Kunstbanause lässt es sich leben. Es gibt Leute, die sich
       ihre Unkenntnis in Kunstdingen geradezu hoch anrechnen. Aber wer würde
       einräumen, von Geschmack keinen blassen Schimmer zu haben? Wohl niemand.
       Weil Geschmack, anders als Kunst, als eine natürliche Gabe erscheint, als
       eine Mitgift, mit der jeder von uns ins Leben entlassen wird.
       
       Gleichzeitig ist jedem von uns augenfällig, dass ihn viele vermissen
       lassen. Wie geht das zusammen: dieser Anspruch aller, mit der alltäglichen
       Erfahrung, dass kaum jemand Geschmack zu haben scheint? Warum gerade in
       Geschmacksdingen dieses denkbar größte Durcheinander?
       
       Eine Frage, die Gustav E. Pazaurek in die Raserei getrieben zu haben
       scheint. 1909 eröffnete der damalige Direktor im Stuttgarter
       Landesgewerbemuseum eine „Abteilung der Geschmacksverwirrung“ – mit dem
       Ziel, schlechten Geschmack zu kartografieren. Schluss mit dem
       Durcheinander! Schluss mit dem ewigen Streit über Geschmack. Allen, das war
       Pazaureks große Idee, sollten klare Kriterien an die Hand gegeben werden,
       um zu erkennen, was geht – und was gar nicht; wo Grenzen überschritten
       werden, wo die Weite des No-Go beginnt.
       
       Eine kleine, aber dennoch kaum überschaubare Ausstellung hat nun jenes
       Pazaurek’sche Schreckenskabinett in Teilen rekonstruiert. Unter dem Titel
       „Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks“ werden ein paar
       wahrhaftige Schmuckstücke präsentiert: ein alter Geweihsessel (der, zu
       Leibe gerückt, heute als Arschgeweih fortlebt). Eine Brosche aus
       Menschenzähnen – da beißt sich was! Ein Tintenfass aus Metall, das mit
       züngelnden Schlangen umgeben ist und von einem speienden, zackigen Drachen
       überwölbt wird, damit ja keiner auf die Idee kommt, seine Hand danach
       auszustrecken, sei es im Laden, sei es zu Hause mit der Schreibfeder.
       
       ## Abgleich mit Pazaureks Kriterien
       
       Noch größer wird die Freude an der Ausstellung durch den Abgleich der
       Geschmacklosigkeiten mit dem, was Pazaurek vorschlägt, um sie dingfest zu
       machen. Mit enormer Wucht verdammen seine Kriterien: Eine Taschenuhr aus
       Holz ist für Pazaurek ein Fall von „Materialvergewaltigung“. Eine Tasse mit
       eingebautem Schnauzbartschutz verhohnepipelt er als „Patenthumor“.
       „Ornamentwut“ macht er aus, wenn man vor lauter Schneeballblüten, Zweigen,
       Heckenrosen und Vögeln die Teekanne nicht mehr erkennt. Getadelt wird
       allerdings auch, wer sich beim Ornament zurückhält – den der
       „Dekorprimitivität“.
       
       Eine Leitlinie scheint dennoch durch das alles: Es ging Pazaurek um das
       Ideal einer modernen, nüchternen, ehrlichen, sachlichen Gestaltung der
       Produkte, und um die Verdammung all dessen, was von dieser Linie abweicht.
       Es ging um einen ethischen und ästhetischen Gegenentwurf zur dumpfen Welt
       des Wilhelminismus, mit seinem Heimat-, Jäger- und Militarismus-Kitsch. Es
       ging Pazaurek gerade nicht nur um Geschmack, sondern um eine utopische
       Hoffnung: dass der Mensch, wenn er bloß aufhört, sein Bier aus einem Krug
       zu trinken, der die Form eines Rettichs hat und von einem finster
       dreinblickenden Bismarck-Kopf gekrönt wird, dass dieser Mensch zu einem
       besseren Menschen wird.
       
       Pazaurek teilte diese Hoffnung mit dem Deutschen Werkbund, dessen Mitglied
       er auch war. Dieser 1907 gegründete Verband bedeutender Gestalter,
       Künstler, Architekten und Kulturpolitiker – mit Theodor Heuss als
       langjährigem Präsidenten –, sandte im frühen 20. Jahrhundert starke
       reformpolitische Impulse aus und bereitete dem Bauhaus den Boden.
       
       ## Erfolgsgeschichte Werkbund
       
       Mit seiner Idee einer ästhetisch und moralisch „guten Form“ ist der
       Werkbund eine Erfolgsgeschichte mit immenser Breitenwirkung – die aber
       dennoch ihr Scheitern miterzählt. Die Ausstellung im Museum für Kunst und
       Gewerbe reflektiert dieses Scheitern sehr gut, indem sie die Design-Greuel
       aus Pazaureks Sammlung heutigen Objekten und Waren gegenüberstellt. Und
       siehe: Der Schrecken hat kein Ende genommen.
       
       Ein Teeservice mit Korkoberfläche eröffnet ein neues Kapitel der
       „Materialvergewaltigung“, eine Palette aus Mahagoni-Holz fällt in Pazaureks
       Kategorie der „Materialprotzerei“. Und sein Begriff der „Zweckkollision“
       passt auf nichts besser als ein Victorianox-Taschengerät, aus dem sich eine
       Nagelschere, zwei Nagelfeilen – und ein USB-Stick klappen lassen. Daran
       kommt allerhöchstens noch ein Feuerzeug mit eingebautem Kompass heran –
       überprüfen Sie morgens auch immer, ob Ihr Gasherd nach Norden ausgerichtet
       ist, ob die Zigarette beim Anzünden nach Westen weist?
       
       ## Kanon der Geschmacklosigkeit
       
       Wichtiger als die Kontinuität sind aber die Verschiebungen im schlechten
       Geschmack, sind neu hinzugekommene Kategorien. „Sexistische Gestaltung“ zum
       Beispiel, denn was lässt sich nicht alles in weiblicher Brustform
       ausführen. Auch „Penis-Puschen, pink“ ist ein Beitrag unserer Zeit zum
       Kanon der Geschmacklosigkeit. Nicht von schlechten Eltern, will sagen,
       ziemlich krass, sind auch der elektrische Fliegenterminator in Form eines
       Tennisschlägers und das Entenwürgespielzeug „Choke Duck“ für Kinder ab drei
       Jahren.
       
       Neben solchen Gebrauchsgegenständen, die einer „Förderung von Gewalt“ nahe
       kommen, zählen die Kuratorinnen der Ausstellung in ihrem ergänzenden
       Fehlerkatalog Stichworte wie „Kinderarbeit“, „Umweltverschmutzung“,
       „Kadaverchic“, „Überzogenes Exklusivitätsgehabe“ und
       „Ressourcenverschwendung“ als Kriterien auf. Hatte Pazaurek schlechte
       Qualität hauptsächlich am Design, am Material und der Funktionalität der
       Dinge festgemacht, rücken damit gesellschaftliche Zusammenhänge in den
       Vordergrund. Ob ein Ding böse ist, verraten inzwischen die Bedingungen,
       unter denen es hergestellt und unter die Leute gebracht wird.
       
       Das ist eine eklatante Wende: Über schlechten Geschmack reden ist damit
       nicht mehr nur eine pädagogische Angelegenheit, sondern eine eminent
       politische. Fragen wir also nicht mehr nach den Dingen allein, sondern nach
       dem System, aus dem sie hervorgegangen sind und innerhalb dessen sie
       zirkulieren, und das heißt: nach dem System, das sie auf diese Weise
       stützen.
       
       ## Auf ein Ganzes hinsehen
       
       Damit ließe sich vielleicht auch der größter Fehler des Pazaurek’schen
       Kriterienkatalogs korrigieren. Der nämlich besteht darin, die betreffenden
       Dinge im Geschmacksurteil zu dekontextualisieren. Der große Hermeneutiker –
       also: Alles-Versteher – Hans Georg Gadamer schrieb, es sei „vorzüglich eine
       Frage des Geschmacks, nicht nur dieses oder jenes als schön zu erkennen,
       das schön ist, sondern auf ein Ganzes hinzusehen, zu dem alles, was schön
       ist, zu passen hat“.
       
       Auf ein Ganzes hinsehen: Wenn wir das tun, kann aus einem so schönen
       Gebrauchsgegenstand wie der Glühbirne eine Geschmacklosigkeit werden
       („Geplante Obszoleszenz“). Es kann aber auch eine Geschmacklosigkeit wie
       der Geweihsessel in der rechten Wohnung die Anmutung eines reizenden
       Schönheitsflecks annehmen. Ja, so sehr ist Geschmack an einen stets
       singulären Kontext gebunden, dass man am Ende nicht einmal wird
       ausschließen können – dass sich ein Arschgeweih mit Würde tragen lässt.
       
       „Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks“: bis 27. Oktober, Museum
       für Kunst und Gewerbe, Hamburg
       
       5 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Maximilian Probst
       
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