# taz.de -- Die Wahrheit: Die Linde im Heuhaufen
       
       > Ein Mann muss in seinem Leben bekanntlich drei Dinge tun: einen Baum
       > fällen, ein Kind anschreien und ein Haus abreißen. Doch die Linde bekommt
       > Fluchthilfe.
       
       Vor den Fenstern im zweiten Stock meiner alten Wohnung in Neukölln, da
       stand ein Lindenbaum. Ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum,
       unterhielt ansonsten aber keine herzliche Beziehung zu diesem Gewächs.
       
       Gut, manchmal stand ich rauchend auf dem Balkon und steigerte mich in die
       übliche Paranoia hinein. Ob mir die Linde im Falle eines Feuers behilflich
       sein könnte? Ich malte mir aus, wie ich, weil das Treppenhaus bereits in
       Flammen stünde, mich mit einem beherzten Sprung in ihr Geäst in Sicherheit
       bringen könnte – und wie ich, klar, krachend durch die dünnen Zweige
       rauschen und unten auf dem Gehweg zerschmettern würde. Dagegen gepinkelt,
       wie es die schwedischen Touristen tun, habe ich nie.
       
       Als die Wohnung einmal länger leer stand, hatte sich auch das üppige Leben
       im Blumenkasten auf dem Balkon verabschiedet. Tote Pflanzen standen
       anklagend in trockener Erde, selbst das Unkraut hatte das Zeitliche
       gesegnet. Weil der Umzug in die Provinz bevorstand, funktionierte ich den
       Kübel kurzerhand zum Aschenbecher um.
       
       Erst Monate später, als ich zum Auszug den Balkon räumen wollte, fiel mir
       plötzlich der einzige Überlebende auf. Ein Pflänzchen, nicht länger als ein
       Finger, mit winzigen grünen Blättern an zwei Ästchen, die es mir
       hilfesuchend entgegenreckte.
       
       Nun ist mir die Gärtnerei ungefähr so lieb und teuer wie das abendliche
       Kochen für Freunde, die Ergebnisse der Bundesliga oder die jährliche
       Darmspiegelung. Deshalb fiel mein Blick auf die große Linde, dann auf das
       Pflänzchen, dann wieder auf die große Linde, bis irgendwann, spät, der
       Groschen fiel. Es war das gleiche Grün. Das Pflänzchen war ein Ableger der
       großen Linde, ein klarer Fall von Windbestäubung – und zugleich ein
       Familiendrama. Die große Linde hatte sich in meinem Blumenkasten
       fortgepflanzt, und dem Nachwuchs ging es ähnlich wie mir. Er hatte
       offensichtlich die Schnauze voll von der Gentrifizierung. Und wollte raus
       aus Berlin. Ich fühlte mich geschmeichelt und leistete Fluchthilfe.
       
       ## Ausgewildert in den Pfälzer Wald
       
       Nun muss ein Mann in seinem Leben bekanntlich drei Dinge tun: einen Baum
       fällen, ein Kind anschreien und ein Haus abreißen. Obwohl mir florale
       Romantik so fern liegt wie Feuerland, ist mir die Linde aus Berlin
       inzwischen ans Herz gewachsen. Zugleich ist sie auch weiter in die
       Vertikale gewachsen, sodass wir uns heute auf Augenhöhe begegnen können.
       Ich frage mich, wie vielen verzweifelten Linden es bereits gelungen sein
       mag, aus Berlin abzuhauen; mit einem Kahn die Spree runter und raus nach
       Brandenburg oder im Profil der Reifen einer in Tegel abhebenden
       Passagiermaschine nach Amerika …
       
       Wegen ihrer schieren Größe werde ich die Linde wohl demnächst auswildern
       müssen. Das passende Plätzchen zu diesem Zweck ist schon gefunden, am Rande
       einer Lichtung im Pfälzer Wald, unweit der französischen Grenze. Meine
       Linde wird die Nadel im Heuhaufen sein und gemütlich 1.000 Jahre alt werden
       können. Und, wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages doch noch mal
       dagegenpinkeln.
       
       25 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Arno Frank
       
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