# taz.de -- Blindenbüchereien in Deutschland: Wer nicht sehen kann, muss hören
       
       > In Frankfurt schließt die Bücherei für Blinde und Sehbehinderte. Sie ist
       > eine von nur zehn Hörbüchereien in Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Kopfhörer und Buch sind kein Gegensatz.
       
       FRANKFURT/M. taz | Der Stecker ist rausgezogen. Die schwarze
       CD-Kopierstation steht verlassen auf dem Schreibtisch, fertig zum Abholen.
       Aus dem Regal greift Pfarrer Hans-Georg Döring eine der blauen
       Plastikhüllen heraus, leer. Und auch die Flyer über das Angebot der
       Frankfurter Hörbücherei sind schon weggepackt.
       
       „Wir sind dabei, alles abzuwickeln“, sagt der Blindenseelsorger . Er geht
       Anfang September in den Ruhestand – und die evangelische Hörbücherei stellt
       nach rund 50 Jahren den Betrieb ein. Auf dem Schreibtisch liegen mehrere
       Postkarten und Briefe, Abschiedsgrüße, mal ein paar Zeilen am Computer
       getippt, mal viele Worte mühevoll mit Füller aufs Papier gebracht, alle
       voller Bedauern.
       
       Seit 15 Jahren haben Hans-Georg Döring und seine Frau Aurora die Bücherei
       mit „viel Herzblut“ geführt, wie sie selbst sagen. Nun ist Schluss. Das
       Ehepaar wandert nach Brasilien aus. Die Stelle in der Hörbücherei wird
       nicht neu besetzt, die evangelische Kirche führt nur die seelsorgerischen
       und beratenden Angebote fort. „Sparmaßnahmen“, sagt der Pfarrer.
       
       Die Hörbücherei produzierte pro Jahr etwa 160 Hörbücher: Belletristik,
       Krimis, Märchen. Wer nachweisen konnte, dass er blind oder stark
       sehbehindert ist, konnte sich regelmäßig per Post neue CDs schicken lassen.
       
       ## Alles schnell eingesprochen
       
       Die ehrenamtlichen Helfer vertonten auch komplette Magazine wie GEO und
       Damals – ohne Werbung. Außerdem die Evangelische Sonntagszeitung sowie
       regionale Blätter wie die Frankfurter Seniorenzeitschrift und den
       Kulturkalender. Beim Gedanken daran schlägt Aurora Döring die Hände vors
       Gesicht und lacht: „Das ist eine Arbeit!“ Sie blättert im Stadtmagazin,
       fährt mit ihren Fingern über die Spalten mit kleingedruckten
       Veranstaltungshinweisen, ob Klassik oder Rock, Party oder Lesung, alles
       wurde eingesprochen.
       
       Und zwar schnell. Dienstags erscheint das Journal, freitags sollte es bei
       den Nutzern sein. „Das war alle 14 Tage ein Kraftakt“, sagt der Pfarrer.
       Aber unverzichtbar: „Die Leute wollen teilhaben am kulturellen Leben, auch
       die blinden und sehbehinderten.“
       
       Der Sprecher der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) in Marburg, Rudi
       Ullrich, bedauert die Schließung der Einrichtung. „Wir überlegen, ob es
       Möglichkeiten gibt zu helfen“, sagt er. Bücher könnten die Menschen künftig
       auch aus Marburg beziehen. Dort befindet sich die älteste und größte
       Hörbücherei. Doch gerade der Wegfall regionaler Angebote wäre ein echter
       Verlust.
       
       Die klassische Klientel der Hörbüchereien ist im Seniorenalter. Bei vielen
       Menschen reduziert sich die Sehkraft erst im Alter drastisch. „Dann haben
       sie meist keine Chance mehr, die Blindenschrift noch zu lernen“, sagt
       Ullrich. Für diese Menschen sei Hören oft die einzige Möglichkeit, um sich
       Informationen zu beschaffen und bei Literatur mitzureden – und nicht selten
       auch der einzige Zeitvertreib. Aufgrund des demografischen Wandels gebe es
       immer mehr Blinde und Sehbehinderte, die auf dieses Angebot angewiesen
       seien. „Der Bedarf wächst“, sagt Ullrich.
       
       ## Kommerzielle Interessen
       
       In Deutschland gibt es schätzungsweise etwa zehn Hörbüchereien, unter
       anderem in Marburg, Hamburg, Münster, Berlin, Leipzig und München. Die
       Finanzierung ist nicht gesichert. Immer sei die Angst da, dass öffentliche
       Geldgeber weniger Mittel zur Verfügung stellen oder weniger Spenden
       reinkommen, berichtet der blista-Sprecher. „Es ist ein permanenter Kampf.“
       Viele Menschen dächten, es gibt doch Computer und Hörbücher bei Aldi. Warum
       braucht es überhaupt noch Hörbüchereien? Weil, erklärt Ullrich, es große
       Unterschiede gebe, technische und inhaltliche.
       
       Zum einen gibt es kommerzielle Interessen: Als CD wird nur produziert, was
       sich verkaufen lässt. In Marburg werden aber zum Beispiel auch viele Sach-
       und Fachbücher vertont. Das sei gerade für Schüler und Studenten wichtig,
       berichtet Ullrich. Nach Möglichkeit werden auch Hörwünsche berücksichtigt.
       Zudem werden die Bücher komplett gelesen – im Gegensatz zu vielen
       Hörbüchern, bei denen es sich oft um gekürzte Fassungen und eigene
       Kunstgattungen handele. Produziert wird in einem speziellen Format, das es
       ermöglicht, einzelne Kapitel direkt auszuwählen.
       
       Allerdings: Wenn ein kommerzielles Buch schon vom Autor eingelesen wurde
       und in „barrierefreier Form“ vorliegt, „machen wir das nicht doppelt“.
       Dafür ist das Angebot zu groß: Der blista-Sprecher geht davon aus, dass von
       den 100.000 Neuerscheinungen pro Jahr derzeit etwa 2.000 für Blinde und
       Sehbehinderte zugänglich gemacht werden. Die Hörbüchereien sprechen sich
       dabei ab, sie tauschen ihre Produktionen aus, auch Vertoner aus der Schweiz
       und Österreich nehmen teil.
       
       ## Kein großer Aufwand
       
       Die Bücherei in Marburg leiht weltweit aus. Einfach downloaden können die
       Nutzer die mp3-Dateien jedoch nicht – noch nicht. In der Schweiz sei das
       schon möglich, berichtet Ullrich. In Deutschland müsse noch das
       Urheberrecht geprüft werden. Anfang September werde sich eine Kommission
       zusammensetzen, um ein entsprechendes Gesamtkonzept zu entwickeln.
       
       Für die Umsetzung seien einige technische Voraussetzungen notwendig. Doch
       der Sprecher ist überzeugt: „Das wird sicherlich kommen.“ Die Nutzer kämen
       dadurch viel schneller an die Hörbücher, die Abläufe seien einfacher: Die
       CDs müssten nicht mehr aufwendig gebrannt und per Post verschickt werden.
       
       Dank des Internets wurde für Blinde und Sehbehinderte bereits vieles
       leichter. Auch wenn es noch einige Mängel gibt, etwa weil Bilder nicht mit
       einem Alternativtext hinterlegt sind, so sind doch viele Internetseiten
       mithilfe eines Sprachprogramms zugänglich.
       
       Aber Ullrich betont: Voraussetzung ist immer, dass die Menschen in der Lage
       sind, diese Möglichkeiten auch zu nutzen. Noch gilt das vor allem für die
       jüngere Generation. Das wird irgendwann anders sein. Doch heutzutage seien
       ältere Menschen oft schon froh, wenn sie einen CD-Player bedienen können.
       
       ## Blindenarbeit bleibt erhalten
       
       Pfarrer Hans-Georg Döring erinnert sich an die Probleme, als die
       Frankfurter Hörbücherei vor einigen Jahren von Kassette auf CD umgestellt
       hat. „Es gab einen fürchterlichen Aufstand“, berichtet er. Die älteren
       Menschen konnten mit CDs nichts anfangen. Also fuhren die ehrenamtlichen
       Helfer zu ihnen nach Hause und erklärten ihnen, wie man einen CD-Player
       bedient. Damals war der Kreis der Nutzer auf Frankfurt beschränkt und mit
       rund 50 Personen relativ überschaubar.
       
       Mit dem neuen Ausleihsystem stieg auch die Nachfrage. Zuletzt nutzten 254
       Blinde und Sehbehinderte das Angebot der Frankfurter Hörbücherei. Doch der
       persönliche Kontakt blieb. Wenn jemand seine ausgeliehenen Hörbücher nicht
       zurückschickte, kam ein Anruf: Was ist los? Mal hatten die alten Leute es
       nur vergessen, mal waren sie im Krankenhaus gewesen. Wichtig war vor allem
       das Gefühl: Da nimmt jemand teil. „Das war eher wie eine Familie“, sagt der
       Pfarrer.
       
       Beim letzten Blindentreffen seien einige Tränen geflossen. Doch es zeichnet
       sich ein kleines Happyend ab. Döring ist zuversichtlich, dass die neue
       Tonkabine an anderer Stelle wiederaufgebaut wird. „Es scheint so, dass es
       einen guten Weg gibt“, sagt der 63-Jährige. Es sei „sehr wahrscheinlich“,
       dass der Frankfurter Kulturkalender und die Seniorenzeitschrift von einem
       anderen Träger weiterproduziert werden. Mehr will er noch nicht verraten.
       
       Auch die Blindenarbeit bleibt erhalten – entgegen ersten Befürchtungen. „Es
       hat kräftig gerumpelt, doch es geht weiter“, sagt der Pfarrer. Das macht
       ihm den Abschied leichter. Döring blickt sich in dem kleinen Büro um,
       vergräbt die Hände in den Taschen seiner braunen Stoffhose. „Es hat viel
       Spaß gemacht“, sagt er.
       
       29 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kathrin Hedtke
       
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