# taz.de -- Dialog der Religionen in Nigeria: Hunger nach Frieden
       
       > Im terrorgeplagten Norden Nigerias wollen Christen und Muslime
       > voneinander lernen. Unter anderem in einer Fernsehsendung.
       
 (IMG) Bild: In Nigeria sind von den 160 Millionen Bewohnern die Hälfte Muslime und 40 Prozent Christen.
       
       ABUJA taz | Er wischt sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn,
       steigt in den Wagen, legt die in dunkles Leder gebundene Bibel auf den
       Beifahrersitz und rast los. George Ehusani ist spät dran an diesem
       Montagvormittag. Der Priester fährt den Hügel hinauf, der Wagen schleudert
       durch den Schutt, springt über Gesteinsbrocken, dass die Achsen knacken.
       
       Ehusani parkt vor den Fernsehstudios, zieht rasch seinen schwarzen Blazer
       an, nimmt seine Bibel und eilt hinein. Und obwohl die Sendung gleich
       beginnt und er noch Details mit dem Moderator klären muss, wirkt Ehusani
       sehr gelassen. Für den 55-jährigen Nigerianer ist das hier Routine.
       
       Vor AIT (African Independent Television), dem größten nigerianischen
       privaten TV-Sender des Landes mit Sitz in der Hauptstadt Abuja, stehen
       riesige Stromaggregate, denn ein funktionierendes Stromnetz gibt es nicht.
       Hier wird zweimal in der Woche das
       „[1][//www.facebook.com/pages/Interfaith-Forum-IFAP/264474786995102:Interfa
       ith Forum]“ aufgezeichnet. Ein 30-minütiges Format, welches Vorurteile
       zwischen Christen und Muslimen erst gar nicht aufkommen lassen soll.
       
       Bis zu 50 Millionen Menschen schauen die Sendung, bei der sich der Priester
       Ehusani und der Imam Muhammad Nurudeen Lemu in braunen
       Kunstlederbürostühlen gegenübersitzen, als Hintergrund dient ein schwarzes
       Tuch. Thema heute ist die Theodizeefrage: Warum lässt Gott Leid und Böses
       zu, wenn er gut und allmächtig ist?
       
       Es ist keine Diskussion, wie wir sie aus dem deutschen Fernsehen kennen.
       Niemand wird bei dieser Debatte laut oder kontrovers, es ist ein bisweilen
       langatmiger Austausch von Ansichten. Der Priester und der Imam antworten
       mit Textstellen aus Bibel und Koran, die sie neben sich liegen haben. Der
       Moderator fragt ruhig nach, tupft sich den Schweiß von seiner Glatze.
       Ehusani sitzt ganz in Schwarz lächelnd in der Mitte, links der Moderator
       und rechts der Imam, beide in weißen Gewändern und Ledersandalen – sie
       nicken sich immer wieder wohlwollend zu. Die zwei Kameramänner sehen so
       gelangweilt aus, als würden sie gleich einschlafen.
       
       ## Die Dringlichkeit des interreligiösen Dialogs
       
       Ehusani ist ein Star in seiner Heimat. In Nigeria geboren, wollte er
       eigentlich Anwalt werden, bis er sich als 17-Jähriger für die kirchliche
       Laufbahn entschied. Der kleine Mann mit Nickelbrille studierte an der
       US-Elite-Uni Harvard, lehrte in Singapur und war Vorsitzender der
       nigerianischen Bischofskonferenz. Zusätzlich ist er Mitherausgeber einer
       der profiliertesten Tageszeitungen Nigerias, des Guardian.
       
       Doch sein Hauptengagement gilt dem interreligiösen Dialog. Wenn er einen
       Gegner hat, dann ist es die Terrorgruppe Boko Haram. Wegen dieser fährt er
       umher, hält Vorträge, sitzt in Talkshows, mahnt, warnt und wirbt um
       Unterstützung für seine Arbeit.
       
       Denn der Terror der islamistischen Untergrundbewegung Boko Haram im Norden
       nimmt kein Ende. Die salafistische Gruppe will das politische System
       zerschlagen, dessen Eliten sie als korrupt und sündhaft betrachtet, will
       einen islamischen Staat errichten und die Scharia – das islamische Recht –
       einführen. Im größten christlich-islamischen Staat der Welt sind von den
       160 Millionen Bewohnern die Hälfte Muslime und 40 Prozent Christen. Obwohl
       Nigeria einer der wichtigsten Erdölproduzenten der Welt ist, leben zwei
       Drittel der Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze. Inmitten dieser
       Verzweiflung ist es leicht, Anhänger für radikale Ideen zu finden.
       
       Die Sekte entstand um 2000 herum, Boko Haram bedeutet in der örtlichen
       Haussa-Sprache so viel wie „westliche Bildung verboten“. Über die
       gewalttätigen Salafisten ist nur wenig bekannt, gesicherte Informationen
       über Anhängerzahl, Strukturen und Finanzierung fehlen.
       
       Seit 2009, als die nigerianische Führung versuchte, die Organisation zu
       zerschlagen, haben die Islamisten eine Spur von Terroranschlägen
       hinterlassen. Sie ermorden Politiker, Wirte von Lokalen mit
       Alkoholausschank, liberale muslimische Kleriker und sprengen Kirchen in die
       Luft. Nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
       kosteten die Anschläge in den vergangenen vier Jahren mehr als 3.000
       Menschen das Leben.
       
       ## Flaneur im Messgewand
       
       Ein neuer Tag: Es ist acht Uhr morgens, brütend heiß, ein Geruch von
       Schweiß und Abgasen weht durch die Luft. In der Kirche in Abuja sind etwa
       300 Menschen zum Gottesdienst zusammengekommen, in einer Ecke stehen ein
       Schlagzeug und Trommeln. Priester Ehusani tritt vor die Gemeinde und
       beginnt seine Predigt mit dem Thema Boko Haram. Er warnt vor
       „Selbstgerechtigkeit“ und „Selbstjustiz“: „Liebet eure Feinde“, sagt er,
       die Hände gestikulierend, ein Lächeln auf den Lippen. Er sieht aus wie ein
       freundlicher Flaneur in seinem Messgewand. „Wir sollen selbst in einem ganz
       fürchterlichen Feind ein Gottesgeschöpf entdecken. Auch ein Terrorist ist
       mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet“, fährt er fort. „Diese
       Menschen leben in der Dunkelheit, wir müssen für sie beten.“
       
       Die Religion scheint, wie so oft, ein Vorwand für ganz andere Absichten zu
       sein. In Nigeria kämpfen Menschen um das tägliche Überleben, es gibt
       Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppen. Der ölreiche Süden ist überwiegend
       christlich. Die mehrheitlich islamischen Bewohner im Norden betrachten
       christliche Bauern und Kaufleute, die zum Teil schon seit Jahrzehnten in
       der Region leben, immer noch als Eindringlinge. Diesen „Siedlern“ ist es
       nicht erlaubt, sich um politische Ämter zu bewerben oder sich an lokalen
       Wahlen zu beteiligen. Die Diskriminierung gilt auch für Muslime im Süden –
       ihnen werden nicht sämtliche Bürgerrechte eingeräumt.
       
       So berichtet Ehusani von Kollegen, die ihre Gemeinde vor Muslimen warnen
       und sich Waffen besorgen, um sich gegebenenfalls verteidigen zu können.
       „Beide Seiten rüsten auf“, sagt er. Als im Juni 2012 zwei Anschläge verübt
       wurden, zu denen sich Boko Haram bekannte, machten anschließend christliche
       Jugendliche Jagd auf Muslime, Moscheen wurden angezündet. Diejenigen
       Christen im Norden, die es sich leisten können, wollen weg aus diesem
       tödlichen Umfeld – Muslime im Süden des Landes fliehen in Richtung Norden.
       
       ## „Es gibt keine Hoffnungslosigkeit“
       
       Reichen da Gebete und Dialoge aus, wenn die eigenen Leute angegriffen
       werden? Ehusani atmet hörbar ein, lächelt aber wie fast immer. „Leider hat
       selbst ein Imam nicht unbedingt Einfluss darauf, was junge Radikale
       denken“, antwortet er. Letztlich könne nur das Gesetz den Terror stoppen.
       Dann zitiert er das Gleichnis vom Senfkorn: „Es gibt keine
       Hoffnungslosigkeit.“
       
       Wer durch Nordnigeria reist, kann täglich an einer muslimisch-christlichen
       Veranstaltung teilnehmen. Ob in Gemeindesälen oder Gebetsstuben, in
       Fernsehstudios oder kirchlichen Akademien: Überall ist Dialog angesagt,
       wollen Christen und Muslime voneinander lernen, miteinander leben und reden
       – das sind die Bilder, die sich einem bieten. Zu jedem Treffen der
       Bischofskonferenz wird ein Vertreter des Obersten Islamischen Rats
       eingeladen, und alle zeigen sich einig über die Hauptfaktoren der Krise:
       den Überlebenskampf einer verarmten, multiethnischen Bevölkerung und das
       Versagen der Regierungselite, die ihren Bürgern keine Perspektiven bietet.
       
       Warum müssen Christen bei so viel Einsicht und Austausch um ihr Leben
       fürchten, wenn sie in die Kirche gehen? Warum zögern liberale Muslime, ihre
       Meinung kundzutun? „Kirchen sind halt ein attraktives Ziel“, sagt Ehusani.
       Der Aufschrei bei solch einem Angriff sei einfach lauter als etwa bei der
       Bombardierung einer Polizeiwache. Er räumt ein, dass die Erfolge des
       TV-Formats wohl eher bescheiden seien, er macht sich keine Illusionen: „Ein
       hungriger Mensch wird keinen Frieden geben.“
       
       Erst vor einer Woche wurden bei Angriffen von mutmaßlichen Islamisten auf
       Bürgerwehren 20 Menschen getötet. Die Bürgerwehren hatten sich zum
       Widerstand gegen Boko Haram formiert. Am Freitag wurden mindestens 44
       Menschen von Boko-Haram-Anhängern getötet – und jeder neue Anschlag lähmt
       den Dialog zwischen den Religionen. Priester Ehusani muss noch sehr viel
       reden.
       
       9 Sep 2013
       
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