# taz.de -- Kästners Originalfassung von „Fabian“: Ein aufgerautes Bild
       
       > Unter dem Titel „Der Gang vor die Hunde“ ist nun Erich Kästners
       > Originalfassung des Romans „Fabian“ herausgekommen.
       
 (IMG) Bild: Fabian bleibt Fabian: Erich Kästner, 1969.
       
       Im Nachlass Erich Kästners fand sich ein vergoldeter Bilderrahmen mit dem
       „Führerbefehl“, der das Berufsverbot gegen den Schriftsteller endgültig
       durchsetzte. Regimekritische Gedichte hatten ihn schon früh in Misskredit
       gebracht, dennoch hatte er 1942 sogar noch das Drehbuch zum
       25-Jahre-Ufa-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ schreiben dürfen, bis Hitler davon
       Wind bekam. Kästner wurde arbeitslos – wie Jahre zuvor schon sein
       Protagonist und Alter Ego im „Fabian“.
       
       Seinen Humor hat er offensichtlich behalten, denn der „Führerbefehl“ soll
       bis zu Kästners Krebstod 1974 in dessen Wohnzimmer gehangen haben. Es war
       eine bittere Pointe. Jeden Tag hat ihn das Schreiben an sein Scheitern an
       der NS-Diktatur erinnert, die er zuerst nicht ernst genommen hatte, deren
       Organe er sogar gegeneinander ausspielte, der er schließlich aber doch
       unterlag.
       
       So richtig davon erholt hat er sich nie wieder. Erich Kästner blieb ein
       Unvollendeter der deutschen Literatur, der „Fabian“ sein – von den
       Gedichten abgesehen – ambitioniertestes Werk für Erwachsene.
       
       Dabei sollte dieser Roman, 1931 erschienen und zwei Jahre später von den
       Nazis verbrannt, nur der Anfang sein, Kästner wollte Chronist des
       Nationalsozialismus sein. Deswegen ging er sogar zur Verbrennung seiner
       eigenen Bücher, beobachtete, notierte – Zeitungsmeldungen, sexuelle
       Anekdoten, Flüsterwitze. Teile davon hat er in seinem erst 1961
       veröffentlichten literarischen Tagebuch „Notabene 45“ verarbeitet. Aus dem
       großen Sittenroman des „Dritten Reichs“ als Fortschreibung des „Fabian“
       wurde aber nichts. „Kästner muss erkannt haben, dass dieses Format
       inadäquat gewesen wäre“, sagt Sven Hanuschek.
       
       ## Imaginäre Erstausgabe
       
       Der Münchner Germanist und Kästner-Biograf hat eine, wie er es nennt,
       „imaginäre Erstausgabe“ rekonstruiert und nun unter Kästners
       pessimistischem Wunschtitel „Der Gang vor die Hunde“ herausgegeben. Einen
       konkreten Anlass gibt es nicht, auch eine Verbindung zum
       Überraschungserfolg der 2011 erstveröffentlichten ungekürzten
       Originalfassung von Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ bestreitet
       der Verlag: „Unsere Motivation bei Atrium, Erich Kästner zu verlegen, hat
       nichts mit vermeintlichen Trends zu tun.“ Vielmehr wolle man den Lesern
       „einen der lebendigsten und vielseitigsten deutschen Autoren“ nahebringen.
       
       Über das „Scharmützel mit der DVA“, Kästners damaligem Verlag, und andere
       Hintergründe gibt Hanuschek in seinem Nachwort Aufschluss. Der zwar
       begeisterte Lektor „verlangte aber einige Ergänzungen und die Kürzung
       explizit erotischer und besonders drastischer Kapitel“. Den Nazis freilich
       war auch die entschärfte Fassung schon zu obszön. Der Völkische Beobachter
       sah im Fabian eine „Sudelgeschichte“ voller „Schilderungen
       untermenschlicher Orgien“.
       
       In vorauseilendem Gehorsam hatte der Verlag versucht, die selbst ernannten
       Sittenwächter versöhnlich zu stimmen – ohne Erfolg. Auch der Untertitel
       „Die Geschichte eines Moralisten“ war für sie nur als Provokation zu
       verstehen. Kästner verschmerzte die Eingriffe des Verlags, indem er etwa
       das gestrichene Kapitel um die Blinddarm-Operationswunde des Direktors
       Breitkopf in der Wochenzeitschrift Weltbühne veröffentlichte.
       
       ## „Nachwort für die Sittenrichter“
       
       Den heutigen Leser erscheint die aus Ekelgründen entfernte Passage, in der
       ein Mann die Hosen runterlässt und eine entzündete Narbe vorzeigt, genauso
       harmlos wie der Schabernack, mit dem Fabian und sein bester Freund Labude
       einen ganzen Linienbus gegen sich aufbringen. Übermütig wie zwei Pennäler
       verulken sie Berliner Sehenswürdigkeiten: Der Dom wird zur
       „Hauptfeuerwache“ und das Brandenburger Tor zu einem „Verkehrsturm“.
       Labude: „’Und die Pferdchen obendrauf?‘ ’Ein Denkmal für die letzten
       Droschken.‘ ’Interessant, der Kutscher hat fast nichts an.‘ ’Das ist
       symbolisch zu verstehen‘, brüllte Fabian. ’Wegen der Steuern.‘“
       
       So modern sich Kästners Geschichte, von der allein seit den 70ern im
       deutschsprachigen Raum rund eine Million Exemplare verkauft wurden, heute
       unterm Strich noch liest, besonders in der rustikaleren Urfassung,
       temporeich und wie ein Film montiert, so überkommen wirkt die Empörung
       darüber. Zwar hat dieser Erzähler wenig gemein mit dem Kinderbuchonkel
       Kästner, ist aber noch weit entfernt von der Deutlichkeit späterer
       „Skandalautoren“.
       
       Da untersucht allenfalls mal eine Bekanntschaft Fabians „im Schein der
       Taschenlampe, seinen Sexualapparat wie ein alter Kassenarzt“, bevor beide
       sich jenem „Vorgang“ zuwenden, „den man, temperamentloserweise, Beischlaf
       nennt“, wie Kästner im „Nachwort für die Sittenrichter“ schreibt.
       
       Herausgeber Hanuschek ist viel zu nüchtern, um die Urfassung als die
       literarische Sensation zu verkaufen, die sie nicht ist: „Der ’Fabian‘
       bleibt der ’Fabian‘.“ Aber er lädt – auch im Bestreben, das dominierende
       „sehr glatte 50er-Jahre-Kinderbuch-Kästner-Bild aufzurauen“ – dazu ein,
       einen „großen Stilisten“ (wieder) zu entdecken: „Sicher gibt es einige
       Formulierungen, die inzwischen ein bisschen gemütlich klingen, aber es gibt
       wenige Autoren im 20. Jahrhundert, die so um Durchdringung ringen, um
       Klarheit, ohne dabei ins Banale abzugleiten.“
       
       ## Viel Fieselarbeit
       
       Auch dessen „Medienvirtuosität“ hebt Hanuschek hervor: „Kästner war einer
       der ersten Autoren, der souverän alle Medien seiner Zeit bedient hat, sich
       etwa nicht zu fein war, auch die Drehbücher der Filmadaptionen zu
       schreiben.“
       
       Dass Kästner, allen Ermüdungserscheinungen nach dem Krieg zum Trotz ja ein
       literarischer Star mit Einfluss, Präsident des westdeutschen
       P.E.N.-Zentrums von 1951 bis 1962, spätere „Fabian“-Ausgaben zwar immer
       Korrektur gelesen, die Veröffentlichung der Urfassung zu Lebzeiten aber nie
       forciert hat, dürfte auch daran gelegen zu haben: Es gab immer etwas zu
       tun, was ihm gerade wichtiger oder zumindest profitabler erschien.
       
       „Ich nehme an, dass er auch die Fieselarbeit gescheut hat“, sagt Hanuschek,
       der ihm diese nun abgenommen hat. Vielleicht war es aber ganz anders: „Man
       kann nicht nachweisen, ob er überhaupt von dem Typoskript wusste“ – dem
       Typoskript, das bei Kästners Mutter Ida – ausgerechnet im zerbombten
       Dresden – den Zweiten Weltkrieg überstand und auf dem Hanuscheks Ausgabe
       beruht.
       
       ## Reger Kontakt zur Mutter
       
       Als typische Kästner-Figur pflegt auch der zwischen Teilnahmslosigkeit und
       Anteilnahme schwankende Lebemann Jakob Fabian regen Kontakt zur Mutter. Ihr
       rührender Brief an ihn ist im „Gang vor die Hunde“ in die von Kästner
       intendierte Umgangssprache zurückversetzt, mit allen Verschleifungen und
       Auslassungen. „Gestern war ich bißchen im Palais-Garten“, schreibt sie
       etwa. Den „Mythos vom Muttersöhnchen Kästner“ hält der Experte jedoch für
       überholt. Die „geschönten Mutterfiguren“, sagt Hanuschek, seien vielmehr
       „für die Mutter geschrieben“, die ihn mehr gebraucht habe als Kästner sie.
       
       Bewegend ist „Der Gang vor die Hunde“ auch in der darin vorgeführten
       Mitmenschlichkeit. Inmitten all seiner sexuellen Eskapaden findet Kästners
       Protagonist beim Stromern durch das überheizte Berlin der Weimarer Republik
       immer wieder Zeit und Geld für kleine Gesten der Anteilnahme: So lädt er
       etwa einen Bettler zum Essen ein und lässt einen paranoiden Wissenschaftler
       auf seinem Sofa übernachten. „Auch von Kästner weiß man, dass er
       Bedürftigen gewohnheitsmäßig geholfen hat“, sagt Hanuschek. Was sie
       unterscheidet: Kästner bezahlte seine Hilfsbereitschaft nicht mit dem
       Leben, blieb „Deutschlands hoffnungsvollster Pessimist“ (Marcel
       Reich-Ranicki).
       
       Die Selbstverständlichkeit von Fabians Einschreiten, seine Sorge um die
       auseinanderdriftende Gesellschaft lassen das Buch dann doch auch auf
       ungemütliche Weise altmodisch erscheinen – dieses unbeirrbare Stemmen gegen
       die Vergeblichkeit des eigenen Tuns erscheint aus heutiger Sicht rührend
       naiv. Lassen kam trotzdem nicht infrage. „Sein angestammter Platz ist und
       bleibt der verlorene Posten“, schreibt Kästner über Moralisten wie Fabian
       und sich selbst. „Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines“, lässt er
       ihn im Roman sagen. „Ich möchte helfen, die Menschen anständig und
       vernünftig zu machen.“ Es wird beiden nicht gelingen. Aber es kann keiner
       behaupten, sie hätten es nicht versucht.
       
       21 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) David Denk
       
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