# taz.de -- Ausstellung: Lebendige Geschichte
       
       > Das Rathaus Schöneberg wird 100 und lässt hundertjährige Berliner
       > erzählen: von Kennedy und Mao-Mützen, von Bomben und Hunger, von Erfolgen
       > und Niederlagen
       
 (IMG) Bild: Der amerikanische Präsident John F. Kennedy 1963 bei seiner historischen Rede vor dem Rathaus Schöneberg.
       
       Hundertjährige Berliner können Geschichten zuhauf erzählen: von einer
       Kindheit im Ersten Weltkrieg, von ersten Dates in den 30er Jahren, von
       Emotionen bei Kennedys „Ich bin ein Berliner“, von Neuanfängen und
       Lebenszielen.
       
       Zum 100. Geburtstag des Rathauses Schöneberg porträtiert eine Ausstellung
       dort zehn Hundertjährige, die im Bezirk wohnen. Sie zeigt Fotos von heute
       und von früher sowie persönliche Gegenstände, die ihr Leben geprägt haben.
       Was sie alles erlebt haben, kann man lesen oder auch anhören.
       
       Zur Eröffnung vergangene Woche sind fast alle Porträtierten gekommen,
       glücklich sitzen sie in der ersten Reihe, lachen und erzählen – nicht nur
       von früher, auch von Urenkeln und vom Stolpern über den Rollator. „Aber
       Unkraut vergeht nicht“, sagt die 101-jährige Helga G.*
       
       Ein anderer geht spontan ans Rednerpult, um seine Freude über die
       Ausstellung auszudrücken. Er heißt Albert K. und kam vor 72 Jahren nach
       Berlin. K. war in Krefeld in eine streng katholische Großfamilie geboren
       worden, von der einige seiner Anekdoten handeln: „Ich bin das siebte von
       zehn Kindern – und wie die Familie immer größer wurde, musste der Vater
       Bretter an den Esstisch anbauen“, erzählt er.
       
       Dieser Tisch war das Zentrum der Wohnung, die Kinder saßen aufgereiht auf
       der Bank. „Als nach dem Ersten Weltkrieg das Essen knapp war, wurde das
       Brot genau eingeteilt“, erzählt K., „jedes Kind bekam eine Scheibe. Aber
       meine jüngere Schwester und ich, wir haben immer nur das Weiche
       herausgegessen und die Krusten heimlich auf den Boden geworfen.“ Kaum war
       das Gebet nach dem Essen gesprochen, „zack! krochen die Älteren unter den
       Tisch und holten sich die Krusten“. Albert K. lacht, als er das erzählt,
       und schaut auf ein Foto aus seiner Kindheit, das an einer Tafel in der
       Ausstellung hängt: Alle Geschwister sind darauf zu sehen, außer K. lebt
       heute noch ein Bruder.
       
       In Vitrinen liegen persönliche Gegenstände der Hundertjährigen: eine
       Sportmedaille von 1934, ein Zeugnis vom Reichsarbeitsdienst, eine gezündete
       Brandbombe, die Albert K. 30 Jahre nach Kriegsende aus dem Dachstuhl
       gefischt hat.
       
       Etwas weiter: eine Mao-Kappe. Die gehört Helga G. Die 101-Jährige hat nie
       geheiratet, immer ihr eigenes Geld verdient und ist damit dreimal um die
       Welt gereist. 1981 in China sah sie alle mit „diesen Mützen“ herumlaufen
       und kaufte sich eine als Souvenir.
       
       „Aber als ich sie dann aufgesetzt habe, kriegten die sich gar nicht mehr
       ein, so sehr haben sie sich gewundert. Ein Europäer war damals schon etwas
       Besonderes, dann mit ihrer Mütze – und auch noch eine Frau! Die war ja nur
       für Männer.“ Ein paar seien ihr sogar neugierig nachgelaufen, bis sie
       wieder in den Reisebus stieg. Auch in Berlin war so mancher verwundert über
       ihren großen Reiseeifer. „Aber es war ja mein Geld, deshalb mussten sie es
       akzeptieren.“ Und die Kinder von Freunden warteten schon immer auf neue
       Postkarten von ihr.
       
       Klara S. dagegen war nur während des Krieges länger aus Berlin weg. Sie
       wurde in Schöneberg geboren und hat ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie
       ging auf die gleiche Schule wie Hildegard Knef und erzählt: „Damals gab es
       ja noch den ’gelben Onkel‘, den Rohrstock. Und wir hatten eine
       Französischlehrerin, die war der Teufel: Die hat mit der Hand ins Gesicht
       geschlagen.“ Später habe sie genau diese Lehrerin in Knefs autobiografisch
       gefärbtem Roman „Der geschenkte Gaul“ wiedererkannt. „Da habe ich mich
       gefreut, dass die Knef die angeprangert hat!“
       
       S. Leben war sogar mit dem Rathaus selbst eng verbunden: Im Ratskeller hat
       sie als Wirtschafterin gearbeitet, im Rathaus ihren Mann kennengelernt und
       auf dem Platz davor Kennedys „Ich bin ein Berliner“ gehört. „Welche
       Begeisterung!“, sagt sie. „Wir hatten das Gefühl, das ist unsere Rettung.“
       S. Mann wurde obendrein noch am gleichen Tag geboren, an dem der Grundstein
       für das Rathaus gelegt wurde. Als er noch lebte, habe er mal zu ihr gesagt:
       „Wenn wir hundert werden sollten, dann bestehe ich darauf, dass wir ins
       Rathaus eingeladen werden und in der ersten Reihe sitzen.“
       
       *Um die Senioren vor Betrügern zu schützen, wurden alle Namen in der
       Ausstellung abgekürzt
       
       6 Nov 2013
       
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