# taz.de -- Schrifsteller in der Türkei: Nachbeben eines Aufstands
       
       > Im Sommer war Emrah Serbes im Gezipark dabei. Jetzt kriegt er kein
       > Drehbuch mehr unter. Die Repression wird in der Türkei nicht durchkommen,
       > sagt er.
       
 (IMG) Bild: Emrah Serbes ist ein Jungstar der türkischen Literaturszene.
       
       ISTANBUL taz | Emrah Serbes wartet am Besiktas-Adler, einer Skulptur im
       Zentrum des gleichnamigen Stadtteils von Istanbul und dem Wahrzeichen des
       Fanclubs von Besiktas Spor. Der Treffpunkt ist bereits Programm. Seit dem
       Sommeraufstand rund um den Gezipark ist der Fanclub von Besiktas, „Çarşı“,
       weit mehr als ein Haufen Fußballnarren; er wurde zu einem Symbol des
       Widerstands, und Emrah Serbes ist einer seiner Mitglieder.
       
       Der junge Mann mit dem geraden Blick und der Lederjacke passt gut zu dem
       Bild, das man sich von einem organisierten Fußballfan macht. Aber
       Schriftsteller?
       
       Tatsächlich ist der 32-jährige Emrah Serbes einer der Jungstars der
       türkischen Literaturszene. Er hat mit zwei melancholischen Krimis, die
       beide in Ankara spielen, seine Hauptfigur, Kommissar Behzat C., zu einer
       Kultfigur gemacht. Eine Fernsehserie mit Kommissar Behzat C., für die er
       das Drehbuch verfasste, wurde zu einem Straßenfeger, vor allem in der
       kritischen Öffentlichkeit.
       
       Ein Kinofilm mit Behzat C. in der Hauptrolle ist in Istanbul gerade
       angelaufen. Aber Emrah Serbes ist kein typischer Krimiautor. Sein jüngstes
       Buch, „Erken kaybedenler“ (Die frühen Verlierer), ist ein Erzählband, der
       sich erstaunlicherweise zu einem Bestseller entwickelte und in den
       vergangenen Monaten 50.000-mal verkauft wurde.
       
       Doch wirklich bekannt wurde Serbes erst durch seine politischen
       Stellungnahmen. Vor zwei Jahren hatte er seine Heimatstadt Ankara verlassen
       und war nach Istanbul gezogen. Als einer der Aktivisten während der
       Gezi-Proteste, der als öffentliche Figur in diverse Talkshows eingeladen
       wurde, nahm er kein Blatt vor den Mund. „Drohungen der Regierung reizen
       mich erst recht zum Widerspruch“, sagt er.
       
       ## Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn
       
       Eine seiner Äußerungen während eines Fernsehauftritts hat ihm jetzt ein
       Ermittlungsverfahren der Istanbuler Staatsanwaltschaft eingebracht. Weil er
       im Fernsehen den Namen des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan
       mehrmals in Recep Tazyik Erdogan verballhornte, wurde er wegen Beleidigung
       des Regierungschefs angezeigt. Tazyik bezeichnet den Druck, der aus den
       Schläuchen der Wasserwerfer kommt, mit denen Erdogan seit Monaten
       Demonstranten von den Straßen fegen lässt, und Emrah Serbes findet, dass
       sich Erdogan diesen Namen redlich verdient hat.
       
       „Die Anklage ist völlig absurd“, ist er überzeugt, „wenn das Gericht sich
       selbst auch nur ein wenig ernst nimmt, wird diese Anklage
       niedergeschlagen.“ Doch so absurd die Anklage gegen Serbes ist, so hat sie
       doch System. Sie ist Teil einer Einschüchterungskampagne, die sich gegen
       alle Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller richtet, die den
       Gezi-Aufstand unterstützt haben und den Widerstand gegen die immer
       repressiver werdende Regierung Erdogan weiterhin unterstützen.
       
       Denn Serbes ist nicht der Einzige, der sich mit absurden Anschuldigungen
       konfrontiert sieht. Gegen einen prominenten Schauspieler, Memet Alabora,
       laufen seit Monaten Ermittlungsverfahren, weil er zum Volksaufstand
       aufgerufen haben soll. Als Grund führt die Staatsanwaltschaft einen Tweet
       an, den Alabora Anfang Juni, nach der ersten Räumung des Geziparks durch
       die Polizei, verschickte. Darin heißt es: „Es geht nicht nur um den Park,
       habt ihr das verstanden?“
       
       ## Hetzjagd in den Medien
       
       Da es nicht nur um den Park geht, muss es um den gewaltsamen Sturz der
       Regierung gegangen sein, schlussfolgerte die Staatsanwaltschaft und leitete
       entsprechende Ermittlungen gegen ihn ein. Gleichzeitig startete die
       regierungsnahe Presse eine regelrechte Hetzjagd auf Alabora. Er wurde
       beschuldigt, als Agent internationaler Kreise den Aufstand organisiert zu
       haben, er soll angeblich mit OTPOR zusammengearbeitet haben, der
       jugoslawischen Bürgerrechtsbewegung, die seit dem Sturz des serbischen
       Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic auch an der georgischen
       Rosenrevolution und der Demokratiebewegung in der Ukraine beteiligt gewesen
       sein soll – alles im Auftrag der CIA, versteht sich.
       
       Das sind natürlich krude Verschwörungstheorien. Aber sie wirken. Alabora
       wurde daraufhin so massiv bedroht, dass er sich im Rahmen einer
       Pressekonferenz an die Öffentlichkeit wandte und um Polizeischutz bat. Er
       kann seitdem als Schauspieler nicht mehr arbeiten, bis heute wird gegen ihn
       ermittelt.
       
       Emrah Serbes weiß von mehreren befreundeten Schauspielern, dass sie in
       Schwierigkeiten sind. „Es ist nicht nur Alabora, der ist nur der
       bekannteste. Viele andere, die sich in der Gezi-Bewegung engagiert haben,
       werden zwar nicht polizeilich verfolgt, aber sie bekommen einfach keine
       Rollen mehr.“
       
       ## Abgesetzt, trotz Erfolg
       
       Er selbst ist ebenfalls abserviert worden. Seine Fernsehserie um Kommissar
       Behzat C. wurde trotz des Erfolgs abgesetzt, er bekommt seitdem nirgendwo
       mehr ein Drehbuch unter.
       
       „Macht nichts, jetzt hab ich wenigstens Zeit, an meinem neuen Roman zu
       arbeiten“, sagt er. Während Emrah Serbes durch seinen Erfolg zumindest
       etwas geschützt ist, sind einige seiner Freunde aus dem Besiktas-Fanclub
       weit schlimmer dran. Mehrere von ihnen, die bei den Demos im Sommer immer
       in der ersten Reihe standen, werden jetzt wegen Bildung einer
       terroristischen Vereinigung angeklagt. „Wir mussten hohe Kautionen
       aufbringen, damit sie aus der Untersuchungshaft entlassen wurden“, erzählt
       Emrah, „das Verfahren gegen sie hat eine ganz andere Qualität als bei mir.“
       
       Doch trotz des Drucks und der Repression ist Emrah Serbes nicht deprimiert
       oder mutlos. „Ich weiß, meine Krimis und Erzählungen sind melancholisch und
       eher düster, doch ich selbst bin optimistisch.“ Die Repression wird das
       Gegenteil des mit ihr Bezweckten bewirken, glaubt er. Er ist sich sicher:
       „Die meisten lassen sich nicht mehr einschüchtern.“
       
       Die Ereignisse der vergangenen Tage scheinen ihm recht zu geben. Wie schon
       während der Parkbesetzung, als die Demonstranten mit kreativen Slogans und
       Karikaturen auf die Polizeigewalt reagierten, kursieren auch jetzt im
       Internet wieder sarkastische Empfehlungen, wie man sich verhalten soll,
       wenn die Polizei Razzien in geschlechtergemischten Studentenwohnheimen
       durchführt. Mit dieser Maßnahme war die bislang letzte Kampagne Erdogans
       gegen die kritische Jugend verbunden.
       
       Auch einige türkische Maler üben mit ihren neuesten Bildern unverhohlen
       Kritik an Erdogan und seinem Regime. Die gerade stattfindende Istanbuler
       Kunstausstellung steht dieses Jahr unter dem Motto: „Müdahale varme?“ (Gibt
       es – staatliche – Eingriffe?) Ein Maler, Nova Kosmikova, hat Erdogan
       porträtiert. In Anspielung auf dessen zerstörerische Betonpolitik strömt
       dem Regierungschef Öl aus dem Mund und aus den Augen. Angeblich hat sich
       ein „erzürnter Bürger“ bei der Staatsanwaltschaft wegen Beleidigung
       Erdogans beschwert, die sofort einschritt.
       
       Das Bild musste abgehängt werden, der Kurator der Ausstellung, Ali Simsek,
       wurde aufs Polizeipräsidium zitiert. Aus Protest haben andere Künstler ihre
       Bilder daraufhin mit schwarzen Laken abgedeckt, und das Motto der
       Ausstellung wurde aktualisiert: „Ja, es gibt staatliche Eingriffe in die
       Kunst.“
       
       ## Die nächste Revolte
       
       Emrah Serbes sieht in all diesen Auseinandersetzungen mehr den wachsenden
       Widerstand in der Gesellschaft, als dass ihn die Repression des Staates
       deprimieren würde. Anders als manch anderer Künstler denkt er nicht daran,
       das Land zu verlassen. Im Gegenteil meint er: „Ich kenne viele Leute, die
       die Türkei schon vor Jahren verlassen haben und dann ganz traurig waren,
       dass sie den Gezi-Aufstand im Ausland verpasst haben. Das will ich nicht
       erleben, wenn hier die nächste Revolte kommt.“
       
       Er ist sich sicher, dass sich in der Realität – anders als in seinen Krimis
       – Demokratie und Freiheit letztlich durchsetzen werden. „Die Gezi-Bewegung
       hat die Seele des Landes erweitert, das verschwindet nicht mehr.“ Und er
       sagt: „Die Erinnerung an den Aufstand ist wertvoll. Wie die 68er-Bewegung
       in Frankreich oder Deutschland werden sich auch die Folgen erst in der
       Zukunft zeigen.“
       
       Vor wenigen Tagen fand der Prozess statt, an dem über den Vorwurf der
       Beleidigung Erdogans gegen Emrah Serbes verhandelt wurde. Serbes wurde
       freigesprochen.
       
       18 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Gezipark
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Türkischer Schriftsteller Emrah Serbes: Ein klassischer Haudegen
       
       Auf Demos stellt er sich vor die Wasserwerfer, seine Sprache ist der
       Straßenjargon: eine Begegnung mit Emrah Serbes in Berlin.
       
 (DIR) Türkisch-bayerischer Kriminalroman: Ein Kommissar und Postmigrant
       
       Fastenbrechen und Butterbreze: Su Turhan spielt mit türkischen wie mit
       bayerischen Klischees. In „Bierleichen“ gelingt ihm ein Perspektivwechsel.
       
 (DIR) Verfassung in der Türkei: Erdogan ist gescheitert
       
       Das Machtstreben des Regierungschefs verhindert einen Konsens. Das wird den
       Friedensprozess mit den Kurden erheblich erschweren.
       
 (DIR) Bauprojekt in Istanbul: Es könnte neuen Ärger geben
       
       Am Goldenen Horn soll ein Luxusyachthafen entstehen – eine Bürgerinitiative
       will dagegen kämpfen. Indes schmeißt Erdogan einen kritischen
       Parteikollegen raus.
       
 (DIR) Keine neue türkische Verfassung: „Ich habe genug, es ist aus“
       
       Eine neue Verfassung gehört zu den Versprechen des Ministerpräsidenten
       Erdogan. Daraus wird erstmal nichts. Die zuständige Kommission ist heillos
       zerstritten.
       
 (DIR) Kommentar Erdogans Sittenpolizei: Macht und Realitätsverlust
       
       Geschlechtertrennung, Alkoholverbot, Polizeigewalt: Teile der türkischen
       Gesellschaft sind von Erdogan irritiert. Sein Allmachtswahn wird ihn
       entthronen.
       
 (DIR) Bildungspolitik in der Türkei: Wenn die Sitte kommt
       
       Im Kampf gegen „unmoralische“ Lebensweisen lässt Premier Erdogan nun
       Studentenunterkünfte und Cafés kontrollieren. Hochschüler protestieren.
       
 (DIR) Kolumne Besser: Wer zum Teufel seid ihr?
       
       Bürgerrecht oder ein Quadratmeter Unfreiheit – im türkischen Parlament
       tragen einige Frauen seit wenigen Tagen wieder ein Kopftuch.
       
 (DIR) Kommentar Kopftuch in der Türkei: Über Frauen reden
       
       Das türkische Parlament ist keine kopftuchfreie Zone mehr: Ein Triumph für
       Premier Erdogan – doch es könnte sein letzter gewesen sein.
       
 (DIR) Mit Kopftuch im türkischen Parlament: Die letzte Bastion ist gefallen
       
       Unter Beifall der AKP betraten vier weibliche Abgeordnete das Parlament mit
       Kopftuch. Die Opposition sah den angekündigten Tabubruch gelassen.