# taz.de -- Greiners Kulturgeschichte der Scham: Gefühle gestern und heute
       
       > Wann empfinden wir Scham? Der Literaturkritiker Ulrich Greiner schreibt
       > die Kulturgeschichte eines Begriffs – ohne Kulturpessimismus.
       
 (IMG) Bild: Scham, das ist ein weites Feld.
       
       Der Auftritt Lady Gagas in einem Kleid aus rohem Rindfleisch, der
       öffentliche Heiratsantrag von Monica Lierhaus, aber auch die Erscheinung
       einer Frau auf einem S-Bahnsteig in engen Jeans, Highheels und
       fadenscheinigem Top, darunter ein BH, „der ihre Brustwarzen zeigt“ – Ulrich
       Greiner deutet derlei als Zeichen einer veränderten Schamkultur. „Ein
       konservativ gestimmter Zeitgenosse würde die beschriebenen Szenen für
       schamlos erklären.“ Doch Greiner hütet sich davor, einen Kulturpessimismus
       zu bedienen.
       
       Greiners Anliegen ist ein kultursoziologisches, er interessiert sich für
       „die Gestalt von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen, wie sie uns im Alltag
       sowie in literarischen und wissenschaftlichen Texten begegnet. Es geht also
       um eine strukturelle Betrachtung.“ Der Literatur widmet Greiner die größte
       Aufmerksamkeit. In ihr erkennt er ein „hervorragendes Archiv, das die
       Wandlungen der Gefühlskultur sammelt“.
       
       Und so kommen neben Canetti, Sennett und Bourdieu vor allem Romanautoren
       wie Fontane, Thomas Mann und Broch zu Wort. Es geht also recht gediegen zu.
       Aber wie Greiner im Durchgang durch kanonische Gesellschaftsromane wie
       „Effie Briest“ oder „Buddenbrooks“ leichthändig Aspekte einer sich
       verändernden Schamkultur herausarbeitet, bringt soziologisch einigen Gewinn
       . An Brochs „Die Schlafwandler“ liest Greiner ab, dass sich die
       Gefühlskultur keineswegs kontinuierlich wandelt, sondern in „Sprüngen und
       gegenläufigen Bewegungen“.
       
       Eine wiederkehrende Denkfigur Greiners ist es, den Verlust älterer
       Umgangsformen, etwa der Contenance, wie sie bei Thomas Mann verhandelt
       wird, zu konstatieren, aber umgehend zu betonen, welche Verletzungen oder
       existenziellen Folgen ihre Einhaltung hervorbringen konnte. Jedoch gehe die
       Entformalisierung der Umgangsformen nicht selten mit einer schwer
       überschaubaren Vielzahl neuer Regeln einher, „deren Verletzung nicht minder
       Peinlichkeitsgefühle verursachen kann“.
       
       Scham, das ist ein zu weites Feld, hätte wahrscheinlich Vater Briest
       gesagt. Greiner aber sondiert geduldig das diffuse Feld, versucht eine
       Klärung der Begriffe Scham, Schuld und Peinlichkeit vor dem Hintergrund von
       Moralvorstellungen, sozialer Schichtung, aber auch veränderten Lebens- und
       Arbeitsbedingungen im Kapitalismus. „Cultural Studies“ heißt das Genre im
       angelsächsischen Sprachraum, und davon dürfte es in Deutschland ruhig mehr
       geben.
       
       16 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christiane Müller-Lobeck
       
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