# taz.de -- Die Wahrheit: Saat der Gewalt
       
       > Unter dem zunehmenden Konkurrenzdruck im Bildungswesen eskalieren immer
       > mehr Abi-Streiche zur Kraftprobe rivalisierender Schulen.
       
 (IMG) Bild: Schüler eines musischen Gymnasiums auf dem Weg zum Abi-Gag.
       
       Es ist ein Bild des Schreckens, das sich dem Besucher des Kölner
       Auerbach-Gymnasiums bietet: Der Fußboden des Schulsekretariats ist übersät
       mit angesengten Papierfetzen und Glassplittern, die Schreibtische, die
       Registerschränke und selbst die Wände sind mit einem rötlichbraunen
       Schmierfilm überzogen, und durch die geborstenen Fensterscheiben weht ein
       kühler Frühlingswind einzelne Rauchschwaden und den Geruch von
       Schwarzpulver herein.
       
       Für Jutta Rehbein, die 53-jährige Schulsekretärin, ist die Welt an diesem
       Tag im April endgültig aus den Fugen geraten. Beklommen schaut sie auf den
       Schulhof hinab. Draußen stehen die Schüler des Kunst-LK, in ihrer Mitte ein
       Zwölftklässler, dessen beachtliche Platzwunde am Hinterkopf gerade mit
       Siebdruckgewebe verbunden wird.
       
       „Schönheit gibt es nur im Kampf“, steht auf dem selbst gemalten Banner, das
       die jungen Leute in die Höhe halten. Das Motto ist bei den italienischen
       Futuristen entlehnt.
       
       „So etwas hat es zu meiner Zeit nicht gegeben“, regt sich Fräulein Rehbein
       auf. Natürlich kennt auch sie die Tradition des Abi-Gags, mit dem angehende
       Abiturienten sich in die Prüfungszeit verabschieden. Ihren letzten Schultag
       hat sie auch nach über drei Jahrzehnten noch deutlich vor Augen: „Wir haben
       damals den Eingang mit Heuballen verbarrikadiert und in der Aula ein
       Oktoberfest gefeiert.“
       
       Auch damals schon habe man versucht, einen außergewöhnlichen Abschied zu
       feiern und darin möglichst die anderen Schulen zu übertrumpfen. Doch erst
       mit dem zunehmenden Konkurrenzdruck seit dem Pisa-Schock und der
       Bildungsreform mit ihren verkürzten Schul- und Studienzeiten hat der
       Wettstreit zwischen den Oberstufenschülern jene Vehemenz erlangt, die mit
       den friedlichen Lausbubenstreichen von einst nichts mehr gemein hat.
       
       Die Schüler liefern sich heute erbitterte Schlachten mit Farbbeuteln,
       Kleister und faulen Eiern. Auch Bengalisches Feuer und Böller kommen zum
       Einsatz und verursachen regelmäßig Sachschäden in fünfstelliger Höhe. „Das
       hat doch mit Brauchtumspflege nichts mehr zu tun“, schüttelt Rehbein den
       Kopf. Jörn Pasche, Schulleiter des Auerbach-Gymnasiums, nimmt die
       Ausschreitungen mit Humor. Nicht ohne Stolz blickt er auf die gerahmte
       Fotografie über seinem Schreibtisch, die den Oberstudiendirektor mit einer
       handbeschrifteten Tafel zeigt: „Seit sechs Tagen Gefangener der
       Ernst-Jünger-Schule“.
       
       „Das haben die voriges Jahr ganz clever angestellt“, schwärmt Pasche,
       „Richtig generalstabsmäßig.“ Der engagierte Pädagoge zeigt sich erfreut
       über den Teamgeist, aber auch über den Einfallsreichtum, mit dem junge
       Erwachsenen so komplexe Operationen wie eine Geiselnahme von Lehrkörpern
       durchführen. Natürlich könne eine selbst organisierte Mottowoche keinen
       Wehrdienst ersetzen, führt der umtriebige Rektor weiter aus, aber sie sei
       eine famose Gelegenheit, Bildung zu leben, und nicht zuletzt auch Werte.
       
       ## Die Kleinsten voll dabei
       
       Für die Ehre des Auerbach-Gymnasiums sind schon die Kleinsten voller Eifer
       bei der Sache. Die Schüler der Sekundarstufe I machen sich in der Turnhalle
       als Ersthelfer nützlich, während der Englisch-LK die Schulgemeinschaft auf
       den Kampf einschwört: „We shall fight on the beaches. We shall fight in the
       fields and in the streets. We shall never surrender!“
       
       „Das Wichtigste“, erklärt der Stratege Pasche, „ist, dass wir den
       Chemiesaal halten.“ Dass eine Einheit der benachbarten Weißhaus-Schule den
       halben C-Trakt weggesprengt hat, war für den Schulleiter im Vorjahr die
       größte Schlappe. Schließlich hatte der Trupp nicht nur einen beträchtlichen
       Sachschaden angerichtet, sondern sich mit dieser Aktion zugleich für die
       jährliche Bestenehrung für herausragende schulische und soziale Leistungen
       empfohlen. Diese Niederlage hat die intellektuellen Rivalitäten nachhaltig
       ins Bewusstsein der Millionenstadt gerückt. Inzwischen evakuiert die Stadt
       Köln alle Anwohner, die in einem Umkreis von 300 Metern um eine der
       weiterführenden Schulen leben.
       
       Svenja Förster ist eine von rund 5.000 Bürgerinnen und Bürgern, die die
       heiße Phase des Abi-Gags in der nahe gelegenen Uni-Mensa verbringen. Die
       junge Studentin, die vor zwei Jahren selbst ihre Reifeprüfung am
       Auerbach-Gymnasium abgelegt hat, hat allerdings Verständnis für diese
       Maßnahme. „An Ausnahmezustände bin ich gewöhnt“, verweist sie auf die
       alljährliche Karnevalszeit, in der das halbe Univiertel für den
       öffentlichen Nahverkehr gesperrt ist.
       
       „Das ist dann schon etwas umständlich, pünktlich zu den Vorlesungen zu
       kommen.“ Allerdings gönnt sie den nachfolgenden Abiturjahrgängen ihren
       Spaß. Sie selbst hat damals beim Sturm auf die Weißhaus-Schule zwei Finger
       ihrer rechten Hand verloren. „Aber den gelungenen Abi-Gag“, schließt sie
       lachend, „den kann mir niemand mehr nehmen.“
       
       23 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Bach
       
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