# taz.de -- Debatte Ägypten: Politik der Vergangenheit
       
       > Die Muslimbrüder liefern sich einen makaberen Tanz mit dem Militär. Die
       > Ägypter wollten sie aus kulturellen Gründen nicht an der Macht haben.
       
 (IMG) Bild: Bestürzt über die Todesurteile: Die Mutter eines angeklagten Mursi-Anhängers vor dem Gericht in Minya.
       
       Schon bald wird in Ägypten der Präsident gewählt und die Wahlprognosen sind
       spannender, als man zunächst annehmen mag. Eine vergleichsweise von dem
       verlässlichen Meinungsforschungsinstitut Basseera durchgeführte Umfrage
       fand jüngst heraus, dass 59 Prozent der Wähler unentschieden sind, für
       welchen Kandidaten sie stimmen sollen. Für den amtierenden General Sisi
       wird es also vielleicht doch nicht so einfach wie gedacht. 84 Prozent der
       Befragten wollen wählen gehen, 16 Prozent tendieren zum Boykott.
       
       Auch wenn die Zahl der Wahlverweigerer deutlich niedriger ist als erwartet,
       wissen die meisten Ägypter durchaus, dass die Wahlen keine wirkliche Wahlen
       sind, denn die Muslimbrüder wurden von der Kandidatur ausgeschlossen.
       Angesichts des Versuchs, sie komplett auszuschalten, ist angeraten, sich
       mit ihnen zu beschäftigen. Immerhin sind die Muslimbrüder die
       „Mutter“-Organisation aller anderen islamistischen Gruppen. Wo also endet
       für die Muslimbrüder das Politische und wo beginnt die Theologie?
       
       Historiker tendieren dazu, die Muslimbrüder allein als politische Gruppe zu
       begreifen, die nur einige vage Ideen vom Islam vor allem aus
       Organisationsgründen übernommen hat. Sie vergleichen die Muslimbrüder dann
       gerne mit Parteien wie den Christdemokraten. Ich denke, das geht in die
       falsche Richtung.
       
       Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass viele Ägypter die Muslimbrüder im
       letzten Juni aus kulturellen Gründen abgelehnt haben. Denn sie wollten
       Platz für Religion als ein Imaginäres im Staat und in der Nation, nicht als
       politische Institution. Diese Haltung ist unter traditionellen,
       konservativen Muslimen weit verbreitet und ich denke, wir müssen diesen
       theologischen Aspekt bei den Muslimbrüdern viel ernster nehmen als bisher.
       Dann erklärt sich nämlich auch ihr unbedingter Wille zur Missionierung, die
       der christlichen Missionsarbeit recht ähnlich ist. Nicht umsonst wurden die
       Muslimbrüder 1928 als Reaktion auf die christlichen Missionare in Ägypten
       gegründet und ließen sich von deren Schulen und Jugendorganisationen
       inspirieren.
       
       Aufmerksame Leser werden jetzt vielleicht fragen, welche Verbindung es
       zwischen den Muslimbrüdern zu den Gründungsjahren unter dem Führer Bannas
       und den Muslimbrüdern unter Mursi gibt. Das ist gar nicht so leicht zu
       beantworten, doch der Gang in die Geschichte hilft dabei, die innere Logik
       zu verstehen. Damit wären wir bei der „sunnitischen Dialektik“, die Sunnah
       ist die islamische Praxis, den Worten und Taten des Propheten Mohammed
       nachzueifern. Diese Logik ist die Handlungsvorgabe für islamistische
       Akteure, es ist „die Geschichte in der Geschichte“.
       
       ## Theologie der Opposition
       
       Diese nun verlangt, dass ein islamisch eingefärbtes politisches Handeln
       immer wieder die Verbindung zu der Zeit des Propheten herstellen muss und
       sich bei der Praxis des Tajdid, der Erneuerung des Glaubens, darum bemühen
       muss, die Zeit des Propheten neu mit Leben zu erfüllen. Bannas Gründung der
       Muslimbrüder basiert also auf einer komplexen Dialektik zwischen Gegenwart
       und Vergangenheit.
       
       Wollten die Muslimbrüder also wirklich die Staatsmacht übernehmen? Auf
       jeden Fall waren sie darauf überhaupt nicht vorbereitet. Das ist nicht
       verwunderlich, denn ihrer Ideologie nach sind sie prinzipiell in der
       Opposition. Ihre ganze Geschichte leitet sich aus einem Dagegen ab: gegen
       den westlichen Kulturimperialismus, die britische Krone, die verschiedenen
       ägyptischen Militärregime. Wir haben es mit einer Theologie der Opposition
       und des Widerstands zu tun.
       
       Mehr noch, die moralische Standards, die mit dem Muslimbrüdern assoziiert
       werden – Mitleid, Unbestechlichkeit, Sauberkeitsrituale und der ständige
       Bezug zum Leben nach dem Tod – macht es noch schwerer, die islamistischen
       Führer einfach abzuurteilen, denn ihre Unterdrücker sind häufig in sehr
       dreckige Geschäfte verwickelt, die leicht zu kritisieren sind. Was also ist
       das Politische und was das Theologische?
       
       Das politische Handeln der Muslimbrüder steht immer in einer Dialektik mit
       der religiösen Tradition und Kosmologie und damit im Bezug zur
       Vergangenheit, genauer zum 7. Jahrhundert.
       
       ## Demokratie und Islam
       
       Lassen Sie am Ende noch klarstellen: Trotz meiner tiefen Unzufriedenheit
       mit den Muslimbrüdern als Staatsmacht und der Tatsache, dass ihre Tradition
       sie nicht zum Regieren prädestiniert, bin ich nicht der Ansicht, dass dem
       Islam an sich etwas innewohnt, das der Demokratie prinzipiell widerspräche.
       Das zeigt auch das Beispiel Tunesien. Wobei man hier sehen kann, dass die
       einigermaßen erfolgreiche Transformation verlangt, dass die islamistischen
       Gruppen die Scharia klein schreiben, wenn nicht ganz aufgeben müssen,
       wollen sie in der Lage sein, mit den weltlichen Kräften Kompromisse zu
       schließen.
       
       Während ich diesen Text hier in Kairo zu Ende schreibe, verurteilt das
       ägyptische Gericht in einem Massentribunal 683 Menschen, darunter den
       Führer der Muslimbrüder, Mohammed Badie, zum Tod. Dieses Verbrechen setzt
       den Verbrechen der vergangenen Wochen noch eines drauf, in denen 400
       Menschen zum Tode verurteilt wurden, es ist ein entsetzlicher Schandfleck
       auf der ägyptischen Justiz. Daher fühle ich die Notwendigkeit, zu
       unterstreichen, dass die Beschäftigung mit der politischen Theologie der
       Muslimbrüder nicht bedeutet, dass ich das Militärgericht in irgendeiner
       Weise unterstütze. Militärregierungen haben Ägypten seit 1952 beherrscht
       und sich in einen makabren Tanz mit den Muslimbrüdern verwickelt.
       
       Doch die ägyptische Öffentlichkeit hat bis jetzt zumindest die Armee den
       Islamisten vorgezogen, auch wenn es mir so vorkommt, dass immer mehr
       Menschen sich von beiden Kräften losgesagt haben. Wir werden sehen, ob das
       jüngste Verbrechen der Militärs diesen Trend beendet und hoffentlich
       endlich einen dritten Weg ebnet. Er ist der einzige Weg aus dieser
       Sackgasse.
       
       2 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sarah Eltantawi
       
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