# taz.de -- Analphabetismus: Erste Hilfe für späte Lerner
       
       > 300.000 Erwachsene in Berlin können kaum lesen und schreiben - mit dem
       > Grundbildungszentrum gibt es für sie jetzt eine zentrale Anlaufstelle.
       
 (IMG) Bild: Kein Frontalunterricht: Das ABC-Lernen mal anders
       
       „Eigentlich war ich lieber in der Schule als zu Hause“, erklärt Ute H. Zu
       Hause habe der Vater sie geschlagen und „unsittlich angefasst“. Zur Schule
       sei sie gerne gegangen. Einen Abschluss hat die 52-Jährige trotzdem nicht.
       Auch Kai G., 34 Jahre alt, hatte keine schöne Kindheit. Mit drei Jahren kam
       er ins Heim. Im Gegensatz zu Ute H. aber hat er die Schule mit dem
       erweiterten Hauptschulabschluss verlassen. Dennoch verbindet G. und H.
       dasselbe Problem: beide können sie nicht richtig lesen und schreiben. Damit
       sind sie zwei von rund 300.000 erwachsenen BerlinerInnen, die als
       funktionale Analphabeten gelten. Als Menschen also, die vielleicht einzelne
       Sätze lesen und schreiben können, keinesfalls aber einen zusammenhängenden
       Text. Mitunter können funktionale Analphabeten sich nicht einmal einzelne
       Wörter erschließen.
       
       H. war eins von acht Kindern in einem kaputten Elternhaus. Ihre Eltern
       schickten sie auf die Sonderschule. Nicht, weil sie sich schwer mit dem
       Lernen getan habe, sondern weil die Grundschulen im Neukölln der sechziger
       Jahre überfüllt gewesen seien, sagt Ute H. In den ersten Schuljahren werde
       der Grundstein gelegt, sagt Theresa Hamilton vom Berliner
       Grundbildungszentrum (GBZ). „Wer in dieser Zeit nicht lesen und schreiben
       lernt, tut sich später schwer damit.“
       
       H. hat es nicht gelernt. Sie war in den entscheidenden Jahren nicht auf der
       für sie richtigen Schule. Mit 15 fing sie an, als Zimmermädchen zu
       arbeiten. „Meistens konnte ich es am Arbeitsplatz gut verheimlichen, dass
       ich nicht lesen und schreiben kann“, sagt sie. Bis sie Anfang vergangenen
       Jahres ihren Job verloren hatte, sei sie keine zwei Jahre arbeitslos
       gewesen, sagt die 52-Jährige.
       
       Damit ist H. kein Einzelfall. Mehr als die Hälfte der funktionalen
       Analphabeten ist berufstätig. Auch G. arbeitete. Doch schon bald landete er
       in den Mühlen der Jobcenter. Lesen und Schreiben habe er im Lauf der Jahre
       wieder verlernt, sagt er.
       
       Seit Jahrzehnten kümmern sich die Volkshochschulen oder Vereine wie das
       Neuköllner Alpha-Bündnis, Lesen und Schreiben (LuS) oder der Arbeitskreis
       Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB) um Betroffene, die mit ihrem Problem
       zu ihnen kommen. Die Vereine LuS und AOB fungieren zudem als Träger des
       Anfang Mai eröffneten Grundbildungszentrums (GBZ), das vom Senat finanziert
       wird.
       
       Theresa Hamilton baut derzeit gemeinsam mit Claire Paturle-Zynga das
       Zentrum zur zentralen Anlaufstelle auf. Eine direkte Telefondurchwahl gibt
       es schon, eine Webseite noch nicht. Doch schon bald soll es im GBZ alle
       Informationen rund um das Thema Grundbildung geben. Ob jemand Schwächen hat
       in einfacher Mathematik, dem Umgang mit einem Computer oder und vor allem
       in Sachen Lesen und Schreiben – für all diese Probleme findet man dort den
       Anfang, ihnen ein Ende zu machen.
       
       Das GBZ selbst gibt keine Kurse, aber es vermittelt Betroffene an
       Bildungseinrichtungen wie die bereits genannten. Dort machen dann die
       Dozenten den Schwächen der „Lerner“, wie sie die Analphabeten nennen, mit
       Wissen den Garaus.
       
       Hamilton und Paturle-Zynga arbeiten derzeit daran, ein engmaschiges Netz zu
       spinnen, das sie über die Stadt legen wollen. Niemand soll mehr durch
       Lücken im Bildungssystem fallen und deswegen im Alltag Probleme haben.
       Hamilton hat ihren Doktor in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache gemacht,
       Paturle-Zynga hat Projektmanagement und internationale Zusammenarbeit
       studiert und sich spezialisiert auf Armut und soziale Ausgrenzung.
       
       Das Ziel des Zentrums? Betroffene sollen wissen, wo und wie sie sich
       beraten lassen können. Sie sollen sehen, dass sie mit ihrem Problem nicht
       alleine sind, und ermutigt werden zu lernen. „Sich Hilfe zu holen ist ein
       großer Schritt für die Betroffenen“, sagt Hamilton.
       
       H. und G. sind diesen Schritt gegangen. Beide taten es wegen ihrer Kinder.
       Er wolle ihnen in der Schule helfen und selbst nicht als unwissend
       dastehen, sagt G. als Vater von vier Kindern. Bei H. dauerte es länger, bis
       sie sich zu dem Schritt durchgerungen hatte. Ihrer damals zwölfjährigen
       Tochter beichtete sie, dass sie nicht lesen und schreiben könne. Die
       übernahm daraufhin das Zahlen der Rechnungen sowie das Öffnen der Post.
       Erst der mittlerweile zehnjährige Sohn der Tochter gab seiner Oma H. den
       Anstoß, lesen und schreiben zu lernen. Der Enkel ertappte die Oma dabei,
       wie sie ihm eine Geschichte vorschwindelte, als sie ihm eigentlich etwas
       vorlesen sollte. Doch er habe gesagt, sie müsse sich nicht schämen, sagt H.
       Sie habe jetzt den Ansporn, das aufzuholen, was sie in der Schule versäumt
       hat.
       
       Analphabetismus war lange Zeit ein Tabuthema in Deutschland. Weder gab es
       ein breites öffentliches Interesse daran, noch hatte man verlässliche
       Zahlen.
       
       „Für viele war es wohl schwierig, sich vorzustellen, dass in Deutschland,
       dem Land der Dichter und Denker, so viele nicht lesen und schreiben
       können“, mutmaßt Paturle-Zynga. Lange ging man von 4 Millionen Analphabeten
       in Deutschland aus. Doch eine Studie im Auftrag des
       Bundesbildungsministeriums von 2011 zeigte, dass es deutlich mehr sind: 7,5
       Millionen. Das entspricht etwa 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung.
       
       Die Vereinten Nationen riefen 2003 zu einer Dekade der Alphabetisierung bis
       2012 auf. In den zehn Jahren sollte die Zahl der Analphabeten weltweit
       halbiert werden. Für die Bundesregierung beginnt dieses Jahrzehnt mit
       Verspätung. Erst im derzeitigen Koalitionsvertrag ist die „Dekade“
       verankert in Form einer gemeinsamen Alphabetisierungsstrategie der
       Kultusminister von Bund und Ländern. Berlin hatte darin erklärt, ein
       Grundbildungszentrum eröffnen zu wollen und die Akteure der
       Alphabetisierungsarbeit unter der Leitung der Senatsverwaltung für Bildung
       an einen runden Tisch zu holen. Jetzt sind diese Vorhaben in die Tat
       umgesetzt worden.
       
       Wer sich unter dem neuen Grundbildungszentrum allerdings ein schillerndes,
       eigens für diesen Zweck errichtetes Dorado vorstellt, wird erst einmal
       enttäuscht sein. Derzeit bewohnt das GBZ zwei kleine Räume, die dem Verein
       LuS gehören. Hamilton und Paturle-Zynga suchen noch nach geeigneten
       Räumlichkeiten. Bis die gefunden sind, werden sie weiter den „Bedarf
       sondieren“, um das Angebot auf die Bedürfnisse der Betroffenen
       zuzuschneiden. Derzeit sind sie nah dran an den Lernern des LuS, der Verein
       hat seinen Sitz direkt neben dem GBZ.
       
       „Wir machen hier kaum Frontalunterricht“, sagt Frank Kötter, Dozent und
       Leiter des Praxisbereichs bei LuS. „Jeder Lerner hat ein anderes Niveau,
       darauf muss individuell eingegangen werden.“ H. und G. lernen bei LuS, in
       Vollzeit, also acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. G.s Frau habe
       schon Angst gehabt, dass sämtliche Arbeit im Haushalt an ihr hängen bleiben
       könnte, wenn er tagsüber nicht da ist, sagt er. Bis er angefangen hat zu
       lernen, sei er „Vollzeit-Daddy“ gewesen. „Doch wir kriegen das gut hin.“
       
       Die größte Herausforderung für die Lerner dürften die Botengänge im
       praktischen Unterricht sein. H. und G. kommen gerade von solch einem Gang
       zurück. Stolz erzählen sie, dass sie ihn gemeistert haben: Stadt- und
       Fahrplan lesen, die richtige Adresse finden, sich durchfragen, auf Leute
       zugehen – all das ist nicht einfach für Leute, die aufgrund ihrer Schwächen
       in Sachen Grundbildung lange am Rand der Gesellschaft gelebt haben.
       
       Beide, H. und G., haben eine Nachricht für diese Gesellschaft: „Ihr müsst
       sensibler mit uns umgehen“ und „Wir sind nicht dumm“. Um diese Botschaft
       unter die Menschen zu bringen, engagiert sich besonders G. in der
       Öffentlichkeitsarbeit.
       
       Schon zwei Wochen nachdem er bei LuS angefangen hat zu lernen, habe er
       erstmals öffentlich vorgelesen. Er hat die Selbsthilfegruppe ABC-Berlin
       gegründet. Im März dieses Jahres war er Teil einer Delegation, die im
       Europaparlament in Brüssel Forderungen zum Umgang mit Analphabeten und
       Maßnahmen zur Alphabetisierung vorgetragen hat. G. fängt an zu erzählen.
       Ein Abgeordneter habe von Experten gesprochen, die sich mit dem Thema
       beschäftigten. Ihm habe G. prompt entgegnet: „Wie definieren Sie denn
       Experte? Wir sind auf dem Gebiet doch die Experten.“ Beim letzten Satz
       deutet G. auf sich.
       
       Hamilton und Paturle-Zynga stimmen dem zu. Sie wollen so bald wie möglich
       Betroffene in ihr Team holen, um sie in die Entwicklung des GBZ, das im
       Herbst dieses Jahres nach der ersten Aufbauphase einer breiten
       Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, mit einzubeziehen. Keiner wisse so
       gut, was ein Betroffener braucht, als jemand, der selbst einer war.
       
       3 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Mayr
       
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 (DIR) Schule
       
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