# taz.de -- Die Wahrheit: Allons enfants de la Patrie
       
       > Der Einfluss freundlicher alter Damen auf die großen Revolutionen ist
       > größer als von der Geschichtsforschung bislang angenommen.
       
       „Es ist“, sagte Raimund, „sozusagen die Vollendung der Französischen
       Revolution.“ Ich war fassungslos. „Spinnst du? Weißt du, was das kostet?“ –
       „Pah, die Revolution braucht Menschen der Tat, keine Buchhalter!“ Natürlich
       hatte auch Rudi, der Blödmann, der neben uns an der Theke stand, mitgehört.
       „Ich“, knarrte er, „finde es weitaus revolutionärer, meinen Dreck selber
       wegzuwischen, als mir eine Putzfrau zu halten.“ – „Mann, Rudi“, schnaufte
       Raimund, „hättest du doch dein langes Studium dazu genutzt, auch mal ein
       Buch zu lesen statt immer nur den Mensaspeiseplan! Die Frau ist von Adel!
       Ein zwar verarmtes, aber uraltes Geschlecht! Und wenn eine echte Gräfin bei
       einem Fuzzi wie mir die Fußböden wischt, dann ist das die Revanche für
       zweitausend Jahre Knechtschaft, Frondienste und Geringschätzung.“
       
       „Ich muss weiter“, sagte er dann, trank den Espresso aus, ruckelte seinen
       rosa Plüschbauch zurecht und setzte den Schweinekopf aus Plastik auf, denn
       in diesem Kostüm sollte er fortan samstagmittags Werbezettel von Schlachter
       Burdenski verteilen. „Und es verleiht deiner Revolution keinen Makel, dass
       du in einem Schweinekostüm durch die Stadt hopsen musst, um die Dame
       bezahlen zu können?“ Raimund wiegte nachdenklich sein Schweinehaupt. „Ich
       wüsste nicht, was an Schweinen konterrevolutionär sein sollte. Hätten die
       Sansculotten abends vorher nicht lecker Schweineschnitzel gespachtelt,
       hätten sie nie die Kraft gehabt, die Bastille zu erstürmen.“ – „Die
       Sansculotten haben …?“ – „Mais sûrement!“, ereiferte sich Raimund. „Vivent
       les cochons!“
       
       Ein paar Tage später traf ich ihn im Supermarkt. „Und, wie lief der erste
       Einsatz deiner Putzmamsell?“ – „Alles bestens!“, sagte er. Ich linste in
       seinen Wagen. „Earl Grey? Ich denke, du trinkst nur Espresso, solange es
       für Bier zu früh ist?“ Raimund lächelte. „Die Gräfin ist wirklich arg
       verarmt. Ich schätze, sie wird sich sehr freuen, wenn ich ihr eine Tasse
       von ihrem Lieblingstee serviere, bevor die Arbeit losgeht.“ – „Du nennst
       sie Gräfin?“ –„Es gefällt ihr halt.“ – „Ist das nicht reaktionär?“ –
       „Blödsinn! Wir Sansculotten sind höfliche Menschen und machen netten alten
       Ladys gern eine Freude.“
       
       Dass Höflichkeit zu den unverzichtbaren Bestandteilen einer Revolution
       gehört, war mir bislang entgangen, und daher machte ich während des
       nächsten Großreinemachens einen Spaziergang, der mich zufällig auch bei
       Raimund vorbeiführte.
       
       Ich stieg die Treppe hinauf und klingelte. Er öffnete. „D-du siehst aus wie
       Witwe Bolte“, stotterte ich, denn Raimund hatte sich ein buntes Tuch um den
       Kopf geschlungen und trug eine Kittelschürze. Im Hintergrund saß die alte
       Dame, trank Tee und lächelte mich freundlich an. Es klingelte noch einmal.
       „Ah, mein Taxi“, sagte sie, nachdem sie aus dem Fenster geschaut hatte.
       „Sind Sie so gut, mir mein Geld zu geben, Raimund?“ – „Natürlich“, sagte er
       artig. Dann brachte er sie die Treppe hinunter. Ich fragte mich, ob der
       verheerende Einfluss sympathischer älterer Damen auf den Verlauf von
       Revolutionen schon gründlich genug untersucht worden ist.
       
       19 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joachim Schulz
       
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