# taz.de -- Pilotprojekt zu Kindern inhaftierter Eltern: 878 Tage ohne Papa
       
       > Hannas Vater sitzt im Gefängnis. Psychologen sagen, dass seine Haft auch
       > Hanna bestraft. Zum Glück gibt es die Treffen am Montag.
       
 (IMG) Bild: Gemeinschaftsräume, Spielzimmer und Eltern-Kind-Gruppen gehören nicht zum Standard in deutschen Gefängnissen.
       
       BIELEFELD taz | Es gibt eine stille Abmachung zwischen Hanna* und ihrem
       Vater: Wenn sie zusammen sind, wird nicht geweint. Wenigstens ein bisschen
       soll es sich anfühlen wie früher, als sie abends im Bett gemeinsam „Gregs
       Tagebuch“ gelesen und auf dem Fußballplatz die Tricks der Borussen-Kicker
       geübt haben. Als sie sonntagmorgens zusammen schwimmen gegangen sind und am
       Nachmittag Mathe gelernt haben. Heute sind ihre Treffen eine Stippvisite in
       ihrer unbeschwerten Vergangenheit.
       
       Hanna ist acht Jahre alt und eins von etwa 100.000 Kindern in Deutschland,
       dessen Vater oder Mutter im Gefängnis sitzt. Mit falschen Kreditkarten hat
       ihr Vater unter fremdem Namen im Internet und in Geschäften eingekauft. Zu
       viereinhalb Jahren Haft hat ein Richter ihn dafür verurteilt. Seit elf
       Monaten sitzt er im geschlossenen Vollzug Bielefeld-Brackwede. Von fünf Uhr
       morgens bis viertel vor zwei Mittags schält er in der Gefängnisküche
       Kartoffeln und spült Teller. Eine Stunde am Tag geht er im Innenhof
       spazieren. 14 Stunden täglich ist seine Zellentür zu.
       
       Psychologen sagen, dass seine Haftstrafe auch Hanna bestraft. Jede Woche
       darf sie ihren Vater nur einmal besuchen. Einmal im Monat ist
       Ausnahme-Montag für Hanna und ihren Vater. In der JVA gehören sie mit
       sieben anderen Vätern und ihren Kindern zur Vater-Kind-Gruppe „Freiräume“.
       Die Diakonie Bielefeld organisiert und finanziert das Projekt –
       größtenteils aus Spenden. Alle vier Wochen dürfen die Kinder mit ihren
       Vätern zusätzlich zur normalen Besuchszeit drei Stunden spielen, erzählen
       und kuscheln.
       
       Für die Teilnahme müssen die Väter sich bewerben. Straftäter, die Kinder
       missbraucht haben, nimmt die Sozialpädagogin und Gruppenleiterin Melanie
       Mohme, 37, nicht auf. In allen anderen Fällen spricht sie mit der ganzen
       Familie. Nur wenn alle einverstanden sind und Mohme den Eindruck hat, dass
       den Vätern eine stabile Beziehung zu ihrem Kind wichtig ist, nimmt sie
       jemanden auf.
       
       ## Metalldetektor am Eingang
       
       Die Sonne strahlt vom Frühjahrshimmel, als Mohme Hanna und die anderen
       Kinder an der Gefängnispforte abholt. Ungeduldig hüpft Hanna von einem Bein
       aufs andere, als Mohme dem Beamten am Eingang die Ausweise der Kinder durch
       eine Ausbuchtung in der Glasscheibe zuschiebt. Ihren Stoffhasen und die
       kleine Umhängetasche schließt Hanna im Raum nebenan zusammen mit den
       Geldmünzen aus ihrer Hosentasche in einem Schließfach ein. Gegenstände mit
       ins Gefängnis zu nehmen ist verboten. Drogen oder Waffen könnten dadurch
       hineingeschmuggelt werden. Wie am Flughafen gehen die Kinder durch einen
       Metalldetektor.
       
       Solange Melanie Mohme in ihrer Nähe ist, macht Hanna diese Prozedur nichts
       aus. Mohme, groß und dunkelhaarig, lacht mit ihrer dunklen Stimme, wenn der
       Detektor piepst und eine JVA-Mitarbeiterin Hannas Hosentaschen durchsucht.
       Mohme erzählt vom Völkerballspiel, das sie für den Nachmittag plant, und
       lässt Hanna keine Gelegenheit, über die unangenehme Situation nachzudenken.
       Ihre bloße Anwesenheit verwandelt den kinderfeindlichen Ort in einen, an
       dem Hanna und die anderen Kinder sich behütet fühlen.
       
       Sieben mit Gitterstäben gesicherte Türen schließt Mohme auf und wieder zu,
       bis Hanna in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters rennt. „Hab dich
       vermisst“, murmelt er und küsst sie auf die Wange. 29 Jahre ist Hannas
       Vater alt. Die dunkelbraunen Haare sind kurz geschoren. Seine weichen
       Gesichtszüge und die blasse Haut lassen ihn jünger wirken.
       
       ## Die Besuchszeit ist „zu kurz“
       
       Im Besucherraum kann man die Frühlingssonne nur noch erahnen. Zu viel Licht
       schluckt die fünf Meter hohe Mauer, die rings um die Zellentrakte mit fast
       600 Insassen verläuft. Einmal pro Woche darf jeder Gefangene in diesem Raum
       Besuch empfangen. Alle müssen dann ruhig am Tisch sitzen, auch die Kinder.
       Höchstens 40 Minuten können sie bleiben. „Zu kurz“, sagt Hanna mit einer
       Stimme, der man im Gemurmel der anderen Kinder genau zuhören muss. Verlegen
       dreht sie beim Sprechen den Kopf zur Seite. Ihr reicht die Zeit nicht, um
       ihrem Vater zu erzählen, wie sie beim letzten Fußballspiel ihrer Mannschaft
       das entscheidende Tor geschossen hat, wie die Mathearbeit lief und was sie
       ihrer besten Freundin zum Geburtstag schenkt.
       
       Hanna und ihr Vater kommen außer Puste vom Völkerball-Spiel in der
       Turnhalle der JVA zurück. Ein paar Strähnen ihrer kinnlangen blonden Haare
       kleben dem zierlichen Mädchen, das bei jeder Gelegenheit die Hand ihres
       Vaters ergreift, an den Schläfen.
       
       Jeden Monat überlegen die Väter sich gemeinsam mit Melanie Mohme ein
       Programm. Jetzt malt Hannas Vater ihr beim Kinderschminken den letzten
       Strahl einer gelben Sonne auf die Wange. Während die Farbe trocknet,
       erzählt Hanna, dass sie schon Tage vor der Vater-Kind-Gruppe abends mit
       einem Vorfreude-Kribbeln im Bauch ins Bett geht. Seitdem er nicht mehr zu
       Hause ist, schläft sie neben ihrer Mutter im Ehebett. Weil sie ihren Vater
       so vermisst, hat sie in ihrem Zimmer eine Pinnwand voller Fotos aufgehängt.
       
       ## Verlustängste bei den Kindern
       
       Hannas Vater war zwar bewusst, dass er ins Gefängnis kommen kann, wenn er
       mit falschen Kreditkarten einkauft. Dass seine Tochter und seine Frau
       darunter mindestens genauso leiden wie er, ist ihm aber erst klar, seitdem
       sie ihn zum ersten Mal im Gefängnis besucht haben. Er spricht mit
       gedämpfter, manchmal stockender Stimme. Sein Blick wandert beim Erzählen
       von der Ferne auf den Fußboden. Verlegen schiebt er den Ärmel seiner roten
       Trainingsjacke hoch und runter: „Hanna lacht oft, aber sie versteckt sich
       dahinter. Wenn ich sie genau anschaue, sehe ich, dass sie kurz vorm Weinen
       ist.“
       
       Wie Hanna und andere Kinder damit klarkommen, dass Mutter oder Vater im
       Gefängnis sitzt, ist wenig erforscht. Sogar die Anzahl der Kinder mit einem
       inhaftierten Elternteil ist nur eine Schätzung. Sie beruht auf dem Wissen,
       dass zwei Drittel aller Inhaftierten in Deutschland Eltern sind. Wie viele
       Kinder jeder von ihnen hat, wird nirgends erfasst.
       
       Die bislang größte Studie zu Kindern von Inhaftierten finanzierte die EU.
       Zwischen 2010 und 2012 befragten Experten rund 700 Kinder inhaftierter
       Eltern in Deutschland, Schweden, Rumänien und England. Die Experten fanden
       heraus, dass die lange Trennung von einem Elternteil vielen Kindern
       langfristig schadet: Sie leiden unter Verlustangst, weil eine der
       wichtigsten Bezugspersonen plötzlich aus ihrem Alltag verschwunden ist.
       Dieses Gefühl kann sich bei den Kindern so sehr einprägen, dass sie
       dauerhaft Schwierigkeiten haben, sich auf Beziehungen zu anderen Menschen
       einzulassen. Andere Kinder schwanken aufgrund des spärlichen Kontakts
       zwischen Heroisierung und Verachtung des inhaftierten Elternteils.
       
       ## „Mama weint manchmal“
       
       Jedes vierte Kind ist psychisch auffällig belastet. Auch Hanna gehört dazu.
       Seitdem ihr Vater im Gefängnis sitzt, kann sie sich in der Schule nicht
       mehr richtig konzentrieren. Früher hat er mit ihr zusammen Hausaufgaben
       gemacht. Jetzt wiederholt sie die zweite Klasse. Andere Kinder ziehen sich
       zurück und sprechen kaum noch, wenn ein Elternteil in Haft ist. Wieder
       andere nässen sich ein. Manche glauben, dass sie selbst schuld an der
       Inhaftierung sind oder sich nun um das andere Elternteil kümmern müssen.
       Hanna sagt: „Mama weint manchmal im Schlafzimmer. Aber sie macht dann die
       Tür zu und ich darf nicht rein.“ Wenn Hanna und ihre Mutter zu Hause über
       den Vater sprechen, meiden sie das Wort Gefängnis.
       
       Hannas Mutter muss sich jetzt um vieles alleine kümmern: Sie bringt Hanna
       zum Fußballtraining, räumt die Wohnung auf und kauft ein. Vor wenigen
       Monaten ist Hannas Bruder auf die Welt gekommen. Auch er muss einige Jahre
       ohne seinen Vater auskommen. „Zum Glück hält meine Frau zu mir“, sagt
       Hannas Vater und klingt in diesem Moment fast glücklich vor Erleichterung.
       
       „Wenn eine Beziehung die Haft überdauert, ist das etwas Besonderes“, sagt
       Melanie Mohme. Häufig muss sie dabei zuschauen, wie Familien zerbrechen.
       Von einem auf den anderen Tag fehlt dem Paar jede Zweisamkeit. Jede
       Begegnung wird von Beamten beobachtet, jedes Telefonat mitgehört.
       
       Hannas Mutter muss jetzt auch das Geld für die Familie alleine verdienen.
       Sie arbeitet als Verkäuferin in einer Bäckerei. „Das Geld reicht so
       gerade“, sagt Hannas Vater. Für seine Arbeit in der Gefängnisküche bekommt
       er 150 Euro im Monat. Die Hälfte überweist er seiner Familie. Vom Rest
       kauft er im Gefängnis Duschgel, Schokolade oder Deo.
       
       ## Kinderzimmer ist nicht Standard
       
       Hanna und ihr Vater sitzen inzwischen an einem Tisch in der Ecke des
       Besucherraumes und spielen Mikado. Hanna hat schon fast gewonnen. Spielzeug
       gibt es sonst nur im Kinderbesuchszimmer der JVA. Acht Quadratmeter ist es
       groß. Wenig Platz, aber immerhin sind hier die Wände bunt statt grau, ein
       grünes Sofa steht vor dem Fenster und auf dem Boden eine Kiste mit
       Bauklötzen. Standard in allen deutschen Gefängnissen ist das Kinderzimmer
       noch lange nicht.
       
       Hannas Freundinnen wissen nicht, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt und
       haben sie bislang nicht nach ihm gefragt. Sie sind es gewohnt, dass er
       nicht da ist: In den vergangenen Jahren lag er nach zwei Unfällen schon mal
       für mehrere Monate im Krankenhaus. In der EU-Studie fanden die
       Wissenschaftler heraus, dass Kinder Gefangener von ihren Mitschülern häufig
       gehänselt werden, wenn sie von der Inhaftierung erfahren. Andere lassen
       sich immer neue Ausreden dafür einfallen, warum ihr Vater oder ihre Mutter
       schon wieder nicht zu Hause ist.
       
       Welche Straftat ihr Vater begangen hat, weiß Hanna nicht. Die Eltern
       finden, dass sie mit acht Jahren zu klein ist, um alles zu verstehen. Ihr
       Vater hat Hanna aber erklärt, dass er sich nicht an Regeln gehalten hat,
       die bei Erwachsenen Gesetze heißen, und er deshalb zur Strafe für eine
       lange Zeit nicht nach Hause darf. Hanna findet das ungerecht: „Es tut ihm
       doch leid. Wieso kann er nicht nach Hause?“
       
       ## Hänseleien in der Schule
       
       Melanie Mohme hält es grundsätzlich für richtig, Kindern je nach Alter mehr
       oder weniger über die Straftat der Eltern zu erzählen: „Manchmal sagen
       Eltern ihren Kindern, dass sie hier bei der Arbeit sind. Wenn mich ein Kind
       fragt, ob das stimmt, erkläre ich, dass das ein Gefängnis ist. Kinder
       spüren, wenn man sie anlügt.“ Um kurz vor 18 Uhr gelten die Besuchsregeln
       in Bielefeld-Brackwede auch wieder für die Kleinsten. Ein letztes Mal
       umarmt Hanna für heute ihren Vater. Sie hält seine Hand, solange es geht.
       Er sagt: „Gib Mama einen Kuss.“
       
       Wenn zwei Drittel der Haft rum sind, kann Hannas Vater seine Entlassung
       beantragen. Wenn es schlecht läuft, muss er aber seine gesamte Strafe
       absitzen. Dann kommt er erst in drei Jahren und sieben Monaten aus dem
       Gefängnis. 878 Tage Alltag ohne ihren Vater werden dann hinter Hanna
       liegen. Das achtjährige Mädchen mit dem Stoffhund wird sich in einen
       pubertierenden Teenager verwandelt haben. Für heute dreht Hanna sich im
       Türrahmen noch einmal um und winkt.
       
       * Name geändert
       
       25 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Catalina Schröder
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Gefängnis
 (DIR) Knast
 (DIR) Knast
 (DIR) Strafvollzug
       
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