# taz.de -- Die Wahrheit: Gipfel der Verwandtschaft
       
       > Eine fremde Namensvetterin trägt denselben seltenen Familiennamen. Ist es
       > Mutter? Und hat sie einst auch ein Schwesterlein in die Welt befördert?
       
 (IMG) Bild: Vielleicht der neue Chic im Wohnzimmer werdender Eltern: Modell eines Fötus.
       
       In meiner Eigenschaft als Vertreter für Strick- und Häkelnadeln kam ich
       eines Tages zu einer Haustür, an der mein eigener Familienname stand
       (Wagner und Jäger). Bis zu diesem Augenblick hatte ich geglaubt, der
       einzige Mensch zu sein, der so hieß, denn meine Eltern und übrigen
       Verwandten waren gestorben.
       
       Was ich stärker empfand – Überraschung oder Enttäuschung –, hätte ich nicht
       sagen können, jedenfalls verschlug es mir meine übliche Vorgehensweise, die
       darin bestand, zu klingeln und die öffnende Person, egal ob weiblich oder
       männlich, zu fragen: „Wissen Sie denn auch, dass Frauen und Mädchen in
       aller Welt häkeln und stricken?“
       
       Wegen der zwei „und“ in so kurzer Folge war ich nicht restlos zufrieden mit
       dem Wortlaut, wusste aber keinen besseren. Etwa die Frage zu stellen, ob
       wir gemeinsam auf dem Dachboden tanzen sollten, wäre nicht annähernd so
       zweckdienlich gewesen. Doch klingelte ich wie sonst auch, denn ich musste
       wissen, wer da meinen raren Familiennamen trug.
       
       Eine Frau öffnete, und wahrhaftig sah sie meiner Mutter etwas ähnlich. Ich
       rief nun keineswegs: „Mutter!“, sondern informierte sie unter Vorlage
       meines Ausweises über unsere Namensgleichheit. Sie schien nichts Bekanntes
       an mir zu entdecken.
       
       „Wenn Sie damit andeuten wollen, Sie seien mein Sohn“, sagte sie, „befinden
       Sie sich im Irrtum. Ich habe nie einen Sohn gehabt, nur eine Tochter.“
       
       Ein nach Art eines Landgeistlichen gekleideter älterer Mann tauchte
       plötzlich neben meiner Namensvetterin auf. Ohne dass mich jemand über seine
       Identität aufklärte, belehrte er die Frau: „Ja, aber vor Ihrer Tochter
       hatten Sie doch eine Fehlgeburt, und zwar eine männlichen Geschlechts.
       Inzwischen ist dieses bedauernswerte Kind in einer anderen Welt zum Manne
       herangewachsen und kommt Sie heute besuchen.“
       
       Der Blick der Frau verriet ihre Skepsis. In der Absicht, zur Klärung der
       Angelegenheit beizutragen, berichtete ich: „Von meinen Eltern weiß ich
       zuverlässig, dass meine Mutter einst ebenfalls eine Fehlgeburt hatte, der
       Fötus war weiblich.“ – „Das ist der Beweis“, rief der Mann. Zu der Frau
       sagte er: „Wir wollen zu Ihrer Tochter gehen und mit ihr die Verbindung
       herausarbeiten, die zwischen allem besteht.“
       
       Die Angeredete widersprach nicht, und zu dritt begaben wir uns in die
       Parterrewohnung. Nun war ich also gewissermaßen als herangewachsene
       Fehlgeburt auf dem Weg zu der herangewachsenen Fehlgeburt, die meine
       Schwester sein sollte. Auf sie war ich sehr neugierig.
       
       Es wurde eine Tür geöffnet, und wir blickten in ein halbdunkles Zimmer. Von
       einer Stehlampe schwach beleuchtet, stand am anderen Ende ein alter
       Wohnzimmersessel. Jemand saß darin, doch war nichts Genaues zu erkennen.
       
       Bevor wir beginnen konnten, die Verbindung herauszuarbeiten, die zwischen
       allem bestand, veränderte sich alles. Wir standen im Freien, und der
       Bergführer sprach: „Meine Damen und Herren, hier sehen Sie den Himalaja
       (Dritter von links) mit seinem gallertartigen Gipfel.“ Dann gingen wir nach
       Hause.
       
       29 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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