# taz.de -- Kolumne Nüchtern: Einer der größten Killer
       
       > Alkoholismus ist in Deutschland so weit verbreitet wie Diabetes – dass es
       > sich dabei um eine Krankheit handelt, wird gerne ignoriert.
       
 (IMG) Bild: Wir selbst sind es ja nie.
       
       Nach fast zwei Jahren geht die „Nüchtern“-Kolumne hiermit zu Ende. Ich
       frage mich schon, ob es etwas gibt, was ich unbedingt noch loswerden muss.
       Etwas, das möglichst viele Menschen dazu bringt, ihr Verhältnis zum Trinken
       und ihr Verständnis von Abhängigkeit zu durchdenken.
       
       Den einen magischen Denkanstoß gibt es natürlich nicht. Und bei diesem
       Thema, das wie kaum ein anderes von individueller und kollektiver
       Selbsttäuschung geprägt ist, erst recht nicht. Momentan lese ich „Der
       Begriff der psychischen Krankheit“, ein Buch von Andreas Heinz, das im
       Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Der Autor ist ein renommierter Mediziner.
       Seit über einem Jahrzehnt leitet er die Klinik für Psychiatrie und
       Psychotherapie der Berliner Charité, sein Spezialgebiet ist die kritische
       Neurobiologie.
       
       Heinz’ Schrift, zu gleichen Teilen Medizin und Philosophie, schlägt eine
       radikale Neuordnung unseres Konzepts der psychischen Erkrankung vor. Die
       psychiatrische Diagnoseflut der vergangenen Jahre hat dafür gesorgt, dass
       solche Leiden häufig von News Cycle zu News Cycle neu „entdeckt“ werden.
       Die gängigen internationalen Klassifikationssysteme führen inzwischen
       Hunderte solcher Störungen auf. Heinz jedoch macht deutlich, dass als
       psychische Krankheit im eigentlichen Sinne nur Psychosen und
       Suchterkrankungen gelten können.
       
       Nur bei ihnen geht subjektives Leiden mit organischen Beeinträchtigungen
       und sozialen Konsequenzen einher – den drei wesentlichen Faktoren für eine
       Krankheitsdiagnose. Das Absurde daran aber sei, so Heinz, dass der
       Großteil, allen voran die Alkoholabhängigkeit, gesellschaftlich noch nicht
       als Krankheit akzeptiert wird.
       
       ## Die Pathologie vor der Haustür
       
       Alle möglichen Verhaltensweisen, die vom kulturellen Konsens abweichen oder
       das reibungslose gesellschaftliche Funktionieren beeinträchtigen, werden
       heute pathologisiert. Dabei sind sie manchmal durchaus angemessene
       subjektive Reaktionen auf unsere Umwelt. Trauert man zu lange oder hadert
       man zu viel mit den Widrigkeiten des Lebens, weil man das Unglück einer
       schwierigen Kindheit hatte, gilt man als depressiv.
       
       Kommt man mit den Anforderungen der Arbeitswelt nicht zurecht, muss man in
       die Burn-out-Klinik. Das muss nichts Schlechtes sein, denn viele Menschen
       finden so die Hilfe, die sie brauchen. Aber spitzt man die Diagnose des
       Forschers zu, muss man sagen, dass wir bereitwillig alle möglichen Formen
       subjektiven Leidens zu Krankheiten stilisieren, obwohl dafür kein Befund
       vorliegt.
       
       Vor der am weitesten verbreiteten psychischen Krankheit aber verschließen
       wir die Augen. Wir schaffen uns Nebenschauplätze, an denen wir unsere
       Krankheitsängste ausleben, während wir versuchen, die Pathologie vor der
       Haustür zu ignorieren. Heinz betont in seinem Buch, wie sehr man in
       Deutschland „Alkoholabhängigen das ’Recht auf Krankheit‘ verweigert“ und
       wie dramatisch Konsequenzen dieser Ignoranz sind – für Betroffene,
       Angehörige und das Gesundheitssystem.
       
       Alkoholismus ist hierzulande so weit verbreitet wie Diabetes, er ist einer
       unserer größten Killer. Alkoholprobleme sind zudem integrativer Bestandteil
       vieler modischer psychiatrischer Diagnosen, etwa des Burn-out. Trotzdem
       glauben viele immer noch, dass Abhängige – wir selbst sind es ja nie – an
       ihren Problemen selbst schuld seien, dass sie an den Folgen von
       Willensschwäche und Triebfixierung und nicht an einer neurologischen
       Krankheit leiden. Wenn es eine finale Botschaft gibt, die ich in dieser
       Kolumne unter die Leser bringen möchte, dann diese: Hören wir damit auf!
       
       4 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Schreiber
       
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