# taz.de -- Die Wahrheit: Geld für Luft
       
       > Die Wahrheit-Reportage: Zu Besuch im Wunderwerk moderner Pflege – das
       > erste vollautomatische Altenheim Deutschlands in Zwickau.
       
       Am 7. November 2014 hat der Bundesrat das 1. Pflegestärkungsgesetz
       beschlossen, das zum 1. Januar 2015 in Kraft treten wird. Damit soll sich
       bei der Pflege in Deutschland vieles ändern. Welch erschreckenden
       Auswüchsen dies Tür und Tor öffnet, hat die Wahrheit bei einem Besuch im
       ersten vollautomatisierten Altenheim "Re-Gran" erlebt. 
       
       Verwirrt sehen wir uns in der grauen Wüste von Zwickau um. Hier in diesem
       Industriegebiet soll es stehen, das hochmoderne, automatisierte Pflegeheim.
       Doch wir sehen nichts als fensterlose Betonbauten und Wellblechbaracken -
       kaum vorstellbar, dass in dieser Gegend Senioren und pflegebedürftige
       Menschen untergebracht sein sollen.
       
       Um die groteske Szenerie perfekt zu machen, fährt ein schwarzer Maybach vor
       und hält direkt vor uns. Ein fleischiger Kahlkopf windet sich aus der
       Edelkarosse und kommt strahlend auf uns zu. "Meine Herren!", ruft uns der
       Mann mit niederländischem Akzent zu, "willkommen bei Re-Gran." Das muss der
       Firmengründer und Waschstraßenmogul Jan van der Beek sein.
       
       Beherzt packt uns der holländische Trumm mit seinen Pranken am Ellenbogen
       und schiebt uns in Richtung Betonbunker. "Das ist er, unser ganzer Stolz,
       ein Wunderwerk der Effizienz!", lobt van der Beek sein Werk, hält eine
       Zugangskarte ans Lesegerät und tippt einen PIN-Code ein. "Supersicher,
       unser Heim. Hier kommt keiner einfach rein oder raus."
       
       Dröhnend setzen sich im Inneren Motoren in Bewegung und schwingen die
       schweren Stahltüren auf. Ein kalter Hauch schlägt uns entgegen, der einen
       unweigerlich zögern lässt, einzutreten. "Nur hereinspaziert in die gute
       Stube!", flötet der massige Firmenchef fröhlich.
       
       ## Betten im Betonbunker
       
       Drinnen wirkt alles kahl und steril, die Flure sind menschenleer. "Sie
       müssen wissen, wir haben außer ein paar IT-Kräften keine Mitarbeiter hier.
       Und Besuch ist auch selten. Die paar Angehörigen, die sich blicken lassen,
       haben eigene Zugangskarten und melden sich selber an", erklärt van der
       Beek. Es klingt erschreckend logisch: Wer seine Alten hierher abschiebt,
       will sich das Elend sicher nicht selbst ansehen.
       
       Wir folgen dem Heimchef weiter ins schummrige Innere des Baus und werden
       abrupt von einem Geräusch irritiert. Es klingt wie ein Pumpen und
       Schnaufen, gefolgt von klappernden Münzen. Ein Blick um die Ecke offenbart
       eine große Halle, in der Bett an Bett steht, unterbrochen von medizinischen
       Apparaten.
       
       Van der Beek bemerkt unser Interesse. "Das ist einer von zwei Bereichen,
       den anderen zeige ich Ihnen später", erklärt er. "Dieser SB-Trakt ist für
       die noch etwas fitteren Bewohner."
       
       Hier können die Heiminsassen mitarbeiten und sich selbst und andere
       pflegen. Auch die medizinische Versorgung ist weitgehend automatisiert. Das
       Geräusch, das wir gehört haben, kommt vom münzbetriebenen Beatmungsgerät,
       dass Patienten hinter sich herziehen. Eine ältere Dame blickt uns mit
       flehenden Augen an, kann aber wegen der vielen Schläuche nicht sprechen.
       "Lustige Alte", freut sich van der Beek, "bunkert immer Münzrollen in ihrer
       Matratze." Tatsächlich wirft die Frau jetzt mit zittriger Hand eine Münze
       in einen Schlitz, damit sie wieder Sauerstoff zum Atmen bekommt. Zwei Euro
       für zehn Minuten Luft.
       
       Wir lösen uns von dem Anblick und gehen weiter auf ein großes
       Stahlkonstrukt zu. Darin scheint es zu zischen und zu pfeifen. "Das ist
       unsere Waschanlage", wird uns erklärt. Nicht verwunderlich, so etwas hier
       zu finden, hat doch van der Beek seine ersten Millionen mit einer
       Waschstraßenkette in den Benelux-Ländern verdient. Nun erschließt er sich
       mit automatischen Pflegeheimen einen neuen Markt im überalterten
       Deutschland - selbstverständlich staatlich subventioniert.
       
       "Sehen Sie mal, hier vorne werden die Bewohner mit ihren Betten in die
       Anlage gefahren, und dort hinten kommen sie frisch und sauber wieder raus."
       In nur 45 Sekunden werden die Patienten schamponiert, abgebürstet, gespült,
       mit Heißwachs versehen und trocken geföhnt. Auch Gebisswäsche und
       Glatzenpolitur sind je nach Servicevertrag verfügbar. Van der Beek scheint
       unsere Abscheu als Begeisterung misszuverstehen. "Es ist ein Prachtstück.
       Und wir mussten erstaunlich wenig basteln, um sie von Autos auf
       Krankenhausbetten umzurüsten."
       
       Wir gehen eine Station weiter zur Nahrungsverteilung. Sobald die Betten aus
       der Waschstraße kommen, werden sie nacheinander durch einen "Portionierer"
       geschoben, der eine genau abgemessene Menge Nährlösung sowie ergänzende
       Feststoffe über einen ergonomischen Trichter in die regungslos in den
       Betten liegenden Bewohner zuführt. Das sei durchaus schmackhaft, versichert
       van der Beek, man verwende geschmacksverstärkende Brühwürfel, um die
       Nahrung aufzupeppen. Wo diese herkommen, erfahren wir später.
       
       ## Stahlschleuse in die Tiefe
       
       Nachdem sie aus dem Portionierer kommen, werden die Betten von Förderband
       weiter transportiert zu einer riesigen Stahlschleuse, in der sie
       nacheinander verschwinden. Van der Beek beschleunigt seinen Schritt.
       "Kommen Sie, das müssen Sie sich ansehen." Er öffnet eine Tür neben der
       Schleuse. Dahinter scheint es endlos in die Tiefe zu gehen. Regalreihen mit
       Betten erstrecken sich, so weit das Auge blicken kann. "Das, liebe Freunde,
       ist Effizienz! Die Alten verlassen ihre Betten ohnehin nicht mehr, wozu
       sollte man dann eine ganzes Zimmer mit ihnen belegen?"
       
       Der monströse Apparat ist vollgepackt mit modernster Computertechnik, die
       alle Insassen überwacht. Sensoren erkennen selbstständig veränderte Werte
       und leiten die geeigneten Maßnahmen ein. So wird der Füllzustand der Blase
       und des Mastdarms jedes Bewohners überwacht. Damit ist direkt klar, wann es
       Zeit ist, einzelne Betten zur Absaugvorrichtung zu fahren. Auch das Ableben
       von Bewohnern wird registriert und dementsprechend verfahren.
       
       "Damit wären wir beim Kern des Re-Gran-Konzepts angelangt", freut sich van
       der Beek, "der Wiederverwertung!" Die Kleidung und der Besitz der
       Verstorbenen werden verbrannt, um damit das Gebäude zu beheizen. Die Toten
       hingegen verarbeitet man zu den Brühwürfeln, mit denen das Heimessen
       gewürzt wird und das ansonsten größtenteils aus Pappmaché und Sägemehl
       besteht. Mit den Angehörigen ist das geklärt, viele empfinden es als
       ungemein praktisch, weil alles Inhouse geregelt wird und man sich die
       Rennerei spart.
       
       Auch sonst erweist sich das Konzept für die Angehörigen als sehr bequem.
       Sie können per App die von den Sensoren erfassten Daten abrufen und
       verfolgen, wo im Komplex sich das Bett gerade befindet. Ebenfalls
       praktisch: Die App kalkuliert aus den Daten eine Gesundheitstendenz und
       auch die voraussichtliche Restlebenszeit. Premium-Besuche - etwa zum
       Geburtstag oder zu Weihnachten - lassen sich ebenso über die Smartphone-App
       buchen und bezahlen.
       
       ## 
       
       Wie dies abläuft, zeigt uns van der Beek zum Schluss. "Es ist traumhaft",
       schwärmt er. Das Bett biegt in so einem Fall nach dem Portionierer links ab
       und wird in das hübsch dekorierte Besuchszimmer gefahren. Frische Blumen
       sind aufgestellt, und im Fernseher läuft eine Aufzeichnung des letzten
       "Herbstfestes der Volksmusik" in der ARD. Die Angehörigen werden von
       angeheuerten Darstellern ersetzt, die stilecht in Tränen ausbrechen und um
       den Verstorbenen wehklagen.
       
       "So, dann wären wir durch", freut sich van der Beek, "wollen sie noch zum
       Essen bleiben, oder sollen wir vielleicht Ihren Wagen durch die Anlage
       schicken?" Höflich lehnen wir ab, suchen das Weite und hoffen inständig,
       auf dem Weg hinaus bloß nicht falsch abzubiegen.
       
       6 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Gückel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Alten- und Pflegeheime
 (DIR) Pflege
 (DIR) Barmer GEK
 (DIR) Weihnachten
 (DIR) Restaurant
 (DIR) Finnland
 (DIR) Argentinien
 (DIR) Vorhersage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ältere Menschen in Krankenhäusern: Keine optimale Versorgung
       
       Hochbetagte Menschen werden länger versorgt als nötig, kritisiert die
       Barmer. Denn der Gewinn der Klinik hänge von der Behandlungsdauer ab.
       
 (DIR) Countdown bis zu den Festtagen: Und täglich grüßt die Weihnachtsapp
       
       Animierte Schneeflocken und grinsende Rentiere – dieses Jahr wird
       Weihnachten via Smartphone zu einem Ereignis des grellen Grauens.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Lasset die Durstspiele beginnen!
       
       Seit einiger Zeit verschwinden in Berlin Flaschenpfandsammler. Und auch der
       Reporter eines Investigativ-Teams ist unauffindbar …
       
 (DIR) Die Wahrheit: Schorf und Torf
       
       In einem neuen Lokal im Trendbezirk Kreuzkölln können Berliner Gourmets die
       kulinarischen Abgründe der traumhaft hippen Ekelküche ausloten.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Stämme aus Stahl
       
       Die Finnenwoche der Wahrheit: Wo Musik aus Metall geschmiedet wird, da gibt
       es eine reiche stählerne Geschichte des knallharten Klangs.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Götzes Gauchogate
       
       Die Kunde vom bizarren Fanmeilen-Auftritt der deutschen Nationalmannschaft
       ist bis nach Argentinien vorgedrungen. Das Echo darauf ist gewaltig.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Skorbut im Loch
       
       Der Astronumismatiker Erich von Koliken weiß, was 2014 geschehen wird.
       Freuen dürfen wir uns auf Steuerberater vom Mars und die Kartoffelschmelze.