# taz.de -- Hammelhaupt und Buddhas Segen: Die kalmückische Hochzeit
       
       > Sie leben in Moskau, aber heiraten in ihrer Heimat nach altem Brauch –
       > junge Kalmücken zwischen Tradition und Moderne.
       
 (IMG) Bild: Wartet am Morgen auf den Bräutigam: Alma Ivanovna im weißen Kleid.
       
       ELISTA taz | Ein Schafbock liegt im Auto, an den Hufen gefesselt, um den
       Hals einen Luftballon geschnürt. Seinen Nasenlöcher werfen Blasen, die
       Augen sind weit aufgerissen. Der Hammel ist ein Geschenk des Bräutigams an
       die Familie der Braut. Ihn am Tag der Hochzeit selbst zu schlachten bringt
       Unheil. Leben soll er, noch einen Tag, um dem frisch vermählten Paar Glück
       zu schenken.
       
       Die letzten Stunden seines Lebens verbringt der Hammel bei einer
       Wahrsagerin, die ihn vor seinem Tod segnen wird. Auch das ist Teil des
       Hochzeitsbrauchs im südrussischen Kalmückien.
       
       Delgir Ivanovna* will alles richtig machen. Schließlich ist Alma ihre
       einzige Tochter. Ihr zukünftiger Schwiegersohn Ajuka stammt aus einer
       traditionellen, fast schon altmodischen Familie. Delgir Ivanovna selbst
       kennt viele kalmückische Traditionen nur aus Erzählungen. Sie ist ein Kind
       der Sowjetunion und modern erzogen worden. Sie hat Freundinnen und Bekannte
       befragt, einen Ratgeber gelesen. Doch die Antworten haben Delgir Ivanovna
       noch mehr verwirrt, denn die Traditionen unterscheiden sich von Familie zu
       Familie. Einheitliche Regeln gibt es nicht.
       
       Seit Ajuka ihr kurz vor Neujahr einen Antrag gemacht hat, fiebert Alma
       diesem einen Tag im Herbst entgegen. Das Hochzeitsdatum haben Mönche im
       buddhistischen Tempel der Hauptstadt Elista festgelegt. Den Ort der Feier
       Ajukas Eltern. Monatelang probierte Alma in den Edelboutiquen Moskaus
       Kleider an, lernte Walzer und suchte Tipps im Internet. In wenigen Stunden
       ist es soweit. Doch der Bräutigam lässt sie warten.
       
       ## „Sieht das okay aus?“
       
       Seit knapp drei Jahren sind Alma Ivanovna und Ajuka Sandschiev ein Paar.
       Beide stammen aus Kalmückiens Hauptstadt Elista, leben aber in Moskau. Er
       ist erfolgreicher Jurist, sie angehende Ökonomin. Ajuka ist sieben Jahre
       älter als Alma, die erst Anfang zwanzig ist. In Russland gelten solche
       Voraussetzungen als erfolgreich für eine Ehe.
       
       Seit halb fünf Uhr in der Früh ist Alma auf den Beinen. Eingeschnürt in ein
       weißes Kleid mit Spitzenoberteil und bauschigem Rock, gepudert und
       frisiert, hockt sie auf einem Stuhl in ihrem alten Kinderzimmer und wartet.
       „Sieht das okay aus?“, ist der Satz, der Alma an diesem Tag am häufigsten
       über die Lippen kommt. Das Make-up, die Frisur, die Maniküre: Alles muss
       sitzen. Almas Freundinnen sind eigens aus Moskau und Europa in die
       kalmückische Hauptstadt angereist. Wie Ameisen wuseln sie um ihre Königin
       herum und zupfen von allen Seiten an dem Brautkleid.
       
       Wie wird es sein, verheiratet zu sein? Alma träumt vor sich hin. Eigentlich
       hat sie sich eine kleine Hochzeit, eine intimere Feier gewünscht. Doch
       Ajukas Eltern bestehen auf einem rauschenden Fest, das den Gästen in
       Erinnerung bleiben soll. Im Gegensatz zu Ajukas Verwandtschaft ist Almas
       Familie winzig. Sie ist Halbwaise, ihr Vater starb, als sie noch klein war.
       Seitdem bilden ihre Mutter und Großmutter den Kern ihrer Familie.
       
       Almas Schwiegereltern sind streng und haben hohe Erwartungen an sie.
       „Scheidung gibt es in unserer Familie nicht!“, hatte sie Michail
       Borisowitsch, ihr Schwiegervater, vor der Hochzeit gewarnt. Und halb
       scherzhaft hinzugefügt, dass er manchmal unangekündigt zum Mittagessen
       vorbei kommen werde, um ihre Kochkünste zu prüfen. Doch das alles stört
       Alma nicht. Sie ist froh, dass sie immerhin ein weißes Kleid zur Hochzeit
       tragen darf und keine kalmückische Tracht, von der zuerst die Rede war.
       
       ## Abschied von der Familie
       
       In der 70-Quadratmeter-Wohnung von Delgir Ivanovna haben sich bereits die
       Verwandten eingefunden. Die Tische sind reichlich gedeckt, das Laminat
       knarzt unter den unruhigen Schritten der Gäste. Endlich klingelt es an der
       Haustür, schnell werden die Fleischtaschen in die Mikrowelle geschoben.
       
       Der Ofen piepst, die Tür geht auf. Herein tritt Ajuka, ihm folgen sieben
       kräftige Männer in dunklen Anzügen. Mit ihren braungebrannten, regungslosen
       Gesichtern erinnern sie an japanische Yakuza, nur die Sonnenbrillen fehlen.
       Die „Delegation“ des Bräutigams, so will es die Tradition, besteht aus
       männlichen Familienmitgliedern, die Geschenke überreichen: einen ganzen
       gekochten Hammel, Süßigkeiten, Gebäck und Wodka. Delgir Ivanovna sammelt
       den Schädel und die Hufen des Schafbocks schnell auf einem Teller und
       stellt ihn vor den Deedsche, den Hausaltar. Kerzen und Räucherstäbchen
       glimmen dort. Ein Portrait des Dalai Lama lächelt hinunter auf das
       Hammelhaupt, das Fleisch erhält seinen Segen.
       
       Im Wohnzimmer sitzen sich die beiden Familien an getrennten Tischen
       gegenüber. Die Stimmung ist angespannt, niemand spricht. Man kennt sich
       untereinander kaum. Endlich ergreift der älteste Gastgeber, Almas
       Großvater, das Wort. Er spricht Kalmückisch, die Sprache seiner Vorväter.
       Junge Kalmücken beherrschen sie kaum noch . Auch Alma und Ajuka verstehen
       nur einen Bruchteil der folgenden Glückwünsche.
       
       ## Zwei Feiern
       
       Die Hochzeitsgesellschaft begibt sich ins Restaurant. Die standesamtliche
       Trauung findet erst nachmittags statt, zuerst wird der Abschied der Braut
       von ihrer Familie gefeiert. Ein Moment, der traurig und fröhlich zugleich
       ist. Eine traditionelle Hochzeit sieht zwei getrennte Feiern in
       verschiedenen Restaurants vor. Morgens lädt die Familie der Braut Freunde
       und Verwandte ein, abends ist die Familie des Bräutigams Gastgeber. Die
       Eltern des Bräutigams selbst sind zur morgendlichen Feier nicht eingeladen.
       Genauso wenig wie die Eltern der Braut zum Fest am Abend. In alten Zeiten
       ergab diese Tradition Sinn. Braut und Bräutigam lebten in der Steppe oft
       weit von einander entfernt. Damit auch Alte und Gebrechliche an der
       Hochzeit teilnehmen konnten, wurde gleich doppelt gefeiert.
       
       Im Saal hängen hellblaue Pompoms, an der „Candy Bar“ gibt es Süßigkeiten
       zum Naschen. Alma und Ajuka tanzen Walzer. Nationales Kolorit zaubern
       alleine kalmückische Tänzer und Sänger, die Kehlkopfgesänge zum Besten
       geben. Eine Moderatorin, „Tamada“ genannt, führt durch die Feier, was
       üblich ist bei russischen Hochzeiten. Nach und nach treten die Gäste mit
       einem Mikrofon in die Mitte des Saals, überreichen Geschenke und sprechen
       dem jungen Paar ihre Glückwünsche aus. Als Delgir Ivanovna an der Reihe
       ist, tropfen leise Tränen von Almas Wangen. Mutter und Tochter stehen sich
       sehr nahe. Bis zu Almas Auszug teilten sie sich ein Doppelbett. Sie umarmen
       sich, Delgir Ivanovna gibt ihrer Tochter einen Kuss.
       
       ## Radetzkys ¡„Hochzeitsmarsch“
       
       Die kalmückische Gesellschaft ist patriarchalisch geprägt. Noch vor einem
       knappen Jahrhundert lebten die Kalmücken polygam. Jeder Mann, der es sich
       leisten konnte, hatte mehrere Ehefrauen parallel. Heute ist nur noch eine
       erlaubt, doch die ist nach wie vor verantwortlich für die Erziehung der
       Kinder, den Haushalt, die Küche. „Ich werde keinen Finger im Haushalt
       krümmen!“, sagte Ajuka vor der Hochzeit, und Alma hat ihm nicht
       widersprochen. Außerdem wolle er bald Kinder, da er fast dreißig sei und
       nicht mehr jung. Alma nickte nur.
       
       Kaum ist die Torte angeschnitten, eilt die Gesellschaft schon ins
       Standesamt. Kaum haben die Gäste ihre Stehplätze eingenommen, ist die
       Trauung schon vollzogen. Leidenschaftslos spult die Standesbeamtin ihren
       Text ab, Alma und Ajuka unterschreiben, geben sich einen schnellen Kuss.
       Dann ertönt Mendelssohn-Bartholdys „Hochzeitsmarsch“. Die beiden sind das
       dritte Paar innerhalb einer halben Stunde. In Russland heiratet man früh –
       und schnell. Vor dem Standesamt fliegen weiße Tauben gen Himmel. Ajuka
       fragt seine frisch Angetraute laut, damit es alle hören können: „Wie lautet
       jetzt dein neuer Familienname?“ „Sandschieva!“ Er lässt Alma den Namen drei
       Mal wiederholen.
       
       Die umliegende Steppe verdunkelt sich, es wird Abend in Elista. Das
       Brautpaar ist erschöpft. Es steht ihnen noch ein letzter Kraftakt bevor:
       die Feier im Restaurant der Sandschievs. „Warum machen wir das alles?“
       hatte Ajukas Vater vor der Hochzeit erklärt. „Weil schon unsere Vorväter so
       gefeiert haben. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder uns einmal vorwerfen,
       ihre Ehe sei gescheitert, weil die Traditionen nicht eingehalten wurden.“
       
       ## Spitzname „Mao“
       
       Michail Borisowitsch ist das Oberhaupt der Familie Sandschiev. Einige
       Verwandte nennen ihn aus Ehrfurcht auch „Mao“, nach dem chinesischen
       Staatsführer. Ajuka ist sein ältester Sohn und soll in seine Fußstapfen
       treten. Bald hat Alma nicht nur einen Ehemann, sondern auch einen
       Schwiegervater, dem sie sich unterordnen muss. Doch Alma würde es nicht
       unterordnen nennen, vielleicht fügen.
       
       Knapp 300 Personen hat Michail Borisowitsch zur Feier eingeladen. Die
       meisten von ihnen sind heute gekommen, um ihm die Ehre zu erweisen. Das
       Brautpaar ist Nebensache. Michail Borisowitsch und seine Frau strahlen vor
       Stolz. Der „Tamada“ beherrscht die Bühne, die Lautsprecher dröhnen, eine
       Unterhaltung mit dem Tischnachbarn ist nicht möglich. Sechs Stunden lang
       nehmen Alma und Ajuka die Glückwünsche der Gäste stehend entgegen. Immer
       wieder wünscht jemand „viel Geduld in der Ehe“.
       
       Gegen Ende des Abends schlüpft das Brautpaar in kalmückische Trachten und
       tanzt. Ajuka geht in die Knie und wirbelt wie ein Adler im Sturzflug um
       Alma herum, die mit ihren schlanken Armen eine Sichel in die Luft zeichnet.
       Kurz nach Mitternacht ist auch der letzte Gast zu Wort gekommen. Der DJ
       legt Popmusik auf. Die Alten strömen aus dem Saal, die Jungen drängen
       erleichtert auf die Tanzfläche. Ein 15-jähriger Junge mit verpickeltem
       Gesicht ringt sich zum ersten Mal an diesem Abend ein gequältes Lächeln ab.
       Er saß die ganze Zeit neben den Lautsprechern.
       
       ## Hammel und Tee
       
       Einen Tag nach der Feier klingelt es an Delgir Ivanovnas Tür. Ein Mann mit
       einem Emaille-Topf in den Armen steht vor der Tür, darin die Überreste des
       Hammels. Delgir Ivanovna drückt ihm ein paar Scheine in die Hand, für die
       Hausschlachtung. Sie ist zufrieden, das Fleisch ist frisch. Gleich wird sie
       es in Stücke zerlegen und später ihren Verwandten schenken. Froh ist sie,
       ihre mütterliche Pflicht ist getan, Alma in festen Händen. Und doch bleibt
       da ein Schmerz, das einzige Kind ist nun fort.
       
       Alma übernachtet nach der Feier zum ersten Mal im Haus ihrer
       Schwiegereltern. Sie ist früh aufgestanden. Jetzt muss sie nur noch eine
       Probe bestehen: Tee für ihre neue Familie kochen. Kalmückischen Tee mit
       Milch, Butter, Salz und einer Prise Muskatnuss. Dann löst eine weibliche
       Verwandte Almas langes Haar und flicht es zu zwei Zöpfen. Alma ist jetzt
       nicht mehr ledig, soll das bedeuten. Ihre Schwiegereltern haben ihr
       symbolisch einen neuen Namen gegeben: Dschirgal, das Glück. Jetzt beginnt
       für sie offiziell ein neues Leben, als verheiratete Frau, in Moskau.
       
       * alle Namen geändert
       
       25 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ljuba Naminova
       
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