# taz.de -- Ein Leben im Kiez: Die wahre Miss Kottiwood
       
       > Ingeborg Raddatz lebt seit 1955 am Kottbusser Tor. Sie kennt hier jeden
       > Stein – und zu jedem Stein eine Geschichte. Ein Porträt.
       
 (IMG) Bild: Mächtig-gewaltig: Das Neue Kreuzberger Zentrum
       
       „Ist das nicht schön!? Dieser Blick!“, freut sich Ingeborg Raddatz. Im 9.
       Stock des Zentrums Kreuzberg, dieses weithin sichtbaren Betonmonsters,
       steht die 79-Jährige auf ihrem Balkon und blickt auf das Kottbusser Tor –
       ihren Kotti.
       
       Ingeborg Raddatz zeigt hinüber auf die Reichenberger Straße, wo 1955 ihre
       Geschichte am Platz begann. Ihre Augen leuchten, wenn sie sich an die
       Zeiten im Altbau erinnert, den es schon lange nicht mehr gibt. Und wie sie
       1974 hier als eine der Ersten ins Zentrum Kreuzberg zog.
       
       Inge, wie sie hier alle nur nennen, schaut noch einmal über die
       Hochbahngleise. Dann setzt sie sich auf ihre Couch. Sie kramt eine gelbe
       Mappe mit ein paar losen Fotos hervor. Erinnerungen ihres Lebens.
       
       Inge wuchs in der Wilhelmstraße auf. Dort wurde sie mit ihrer Familie
       insgesamt dreimal ausgebombt. Doch fast mehr als die Bomben fürchtete das
       noch junge Mädchen die in der Nähe stationierte SS. Ihr Großvater war Jude,
       und so lebte auch Inges Familie in ständiger Angst. Sie erinnert sich noch
       daran, wie ihre Mutter sie stets fertig angezogen ins Bett schickte, damit
       sie im Ernstfall schnell fliehen könnten.
       
       ## Aufbruchstimmung
       
       Nach Kriegsende wurde Inge Schneiderin und bezog eine kleine Altbauwohnung
       in der Reichenberger. 1974 war es dann, als sich ihr die Chance bot, mit
       ihren zwei Söhnen in den damals noch Neues Kreuzberger Zentrum (NKZ)
       genannten Bau zu ziehen. „Das waren begehrte Wohnungen. Groß. Geräumig. Man
       musste keine Kohlen mehr schleppen. Und wenn man hier bleiben wollte, gab
       es keine andere Wahl. Die Altbauten wurden ja fast alle abgerissen.“ Die
       Dreizimmerwohnung kostete damals noch etwa 500 Mark.
       
       Es herrschte Aufbruchstimmung. Inge wechselte von der Schneiderei in die
       Altenkrankenpflege, weil sie „schon immer ein Helfersyndrom“ hatte.
       
       Und weil ihr „Menschen wichtig“ sind, wie sie sagt.
       
       Als sie dann vor 20 Jahren in Rente ging, tauschte sie die
       Dreizimmerwohnung im dritten Stock gegen eine kleine Einzimmerwohnung im
       Neunten. Kleine Küche, kleines Bad. Eine orangefarbene Schlafcouch, die sie
       jeden Abend aus-, und jeden Morgen wieder einzieht. Ihr kleines Stück Kotti
       kostet nach dem Fall der Sozialbindung heute 402 Euro. Große Sprünge kann
       Inge mit ihrer Rente nicht machen: „Ich bin eigentlich eine arme Frau, aber
       alles in allem bin ich trotzdem recht glücklich.“
       
       Sie wühlt sich weiter durch die wenigen ungeordneten Fotos und hält bei
       denen inne, die einen hübschen jungen Mann mit braunen Haaren zeigen: ihren
       Sohn Michael. Sie erzählt von Michaels Zeit als Mitbewohner von Rio Reiser.
       Und wie er den legendären Dschungel betrieb – das Tanzcafé mit Weltruf in
       der Nürnberger Straße, in dem David Bowie, Mick Jagger und andere Größen
       ein und aus gingen.
       
       Sie denkt gern an die Zeiten im Dschungel zurück, in dem sie sogar einen
       Stammplatz hatte. Der Dschungel ist heute nur noch eine Erinnerung. Inges
       Stimme zittert und ihre Augen werden glasig, wenn sie davon erzählt. Und
       vom Jahr 2011. Davon, wie sie ihren schwerkranken Sohn noch einen Monat
       pflegte, bevor er starb. Es war der schwärzeste Moment in ihrem Leben. „Ich
       hab damit kämpfen müssen“, sagt sie.
       
       Auf Michaels Beerdigung sah sie den Großteil ihrer Familie zum letzten Mal,
       darunter auch ihre Enkelin Sherin – die heutige Verlobte von
       Fußballweltmeister Jêrome Boateng. Seitdem ist es einsam um Inge geworden –
       zumindest auf der Familienseite.
       
       ## Erster Abschied
       
       Ingeborg Raddatz packt die losen Fotos zusammen. Zeugnisse eines Lebens,
       das so interessant ist wie das Treiben auf dem Platz unter ihrem Balkon.
       Genau in dieses Treiben zieht es sie jetzt. Also raus aus der kleinen
       Wohnung, hinein in den kleinen Fahrstuhl und hinaus in die große, spannende
       Welt des Kottis.
       
       Sie schlendert zielstrebig zur Ecke Reichenberger, wo einst der Altbau mit
       ihrer ersten Wohnung stand, weiter zum Zillehaus, mit dessen Fertigstellung
       1955 die bis heute prägende Betonarchitektur an den Kotti ziehen sollte.
       
       Zwei Jahre nach dem Bau hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, dass sich
       etwas ändert: „Immer mehr Altbauten wurden abgerissen, auch die Freiflächen
       verschwanden. Da wusste ich, dass ich mich vom alten Kottbusser Tor, vom
       alten Platz so langsam geistig verabschieden musste.“
       
       Auf der Mittelinsel unter den Hochbahngleisen steht eine Touristengruppe
       eng um einen Guide geschart, der ihnen den wahren Kotti näherbringen will.
       „Manchmal erzählen die echt Quatsch. Die Tour lohnt nicht!“, moniert Inge.
       Aber wer sollte es ihr auch verdenken? Ihr, die hier jeden Stein und zu
       jedem Stein eine Geschichte kennt. Geschichten von Orten und Menschen, die
       es zum Teil seit Jahrzenten nicht mehr gibt.
       
       Es ist ein Erlebnis, mit Inge ums Rondell zu ziehen. Denn egal, wo sie auf
       ihrer kleinen Runde um den Platz vorbeikommt: Sie kennt fast alles und alle
       – und alle kennen Inge.
       
       Inge steuert auf das Café Südblock zu. Auch hier ist sie keine Unbekannte.
       Küsschen zur Begrüßung, viel Plausch, viel Gelächter. In regelmäßigen
       Abständen wurde im Südblock die „Miss Kottiwood“ gekürt. Wenn man die stets
       adrett gekleidete Inge dabei beobachtet, wie sie sich angeregt mit den
       verschiedensten Menschen unterhält, möchte man sie sofort für die Kategorie
       „Miss Kottiwood – Lebenswerk“ vorschlagen. Eine Frau, der man ihre fast 80
       Jahre nicht ansieht.
       
       Nach einem Kaffee zieht sie weiter; über die Skalitzer zurück zum Zentrum
       Kreuzberg, das sie nie aus den Augenwinkeln verliert. Über den Vorplatz
       vorbei an den Hoffnungs- und Obdachlosen, den Abgehängten, die einst dafür
       sorgten, dass es der Kotti als Ort der Kriminalität und Drogen über die
       Stadtgrenzen hinaus zu zweifelhaftem Ruhm brachte. Sie berichtet dann
       davon, wie sie selbst mal einen jungen Mann tot vor ihrer Tür fand, die
       Spritze noch im Arm. Oder wie sie vier anderen Junkies, die vor ihrer Tür
       rumlungerten, Kaffee und Klappstullen brachte. „Das sind doch auch
       Menschen, die Hilfe verdienen.“
       
       Wenn man sie fragt, ob sie jemals Angst hatte, erzählt sie gern die
       Geschichte, wie ein junger Mann sie auf ihrem Nachhauseweg von der
       Nachtschicht überfallen wollte: „Ich hab ihm sofort eine verpasst. Der
       Kleene stand ganz verdattert da und war bestimmt erschrockener als ich.“ 60
       Jahre Kotti und mehr als 40 Jahre Zentrum Kreuzberg ließen Inge hart im
       Nehmen werden.
       
       Sie wandert weiter. Eine Begrüßung hier, ein Küsschen da. Und zwischendrin
       folgt Anekdote auf Anekdote. Jede Phase des Kottis der letzten 60 Jahre
       kann Inge mit Erlebnissen und Leben füllen. „Für mich ist der Kotti in
       erster Linie Erinnerung. Davon zehre ich bis heute. Das ist vielleicht auch
       etwas Nostalgie.“ Fast ist man versucht, Mitleid mit der Touristengruppe
       unter den Hochbahngleisen zu empfinden: Wie sie das „echte“ Kottbusser Tor
       suchen, während das wahre Gedächtnis des Kottis knapp an ihnen vorbeiläuft.
       
       ## Unverständnis
       
       Inges persönlicher Kotti-Rundgang endet vor der Senioren-WG in der
       Reichenberger. Ein Investor hat vor Kurzem das Areal gekauft und will
       modernisieren. Gerüchte über Mieterhöhungen machen die Runde. Aus Angst
       haben die ersten Senioren ihre Wohnungen schon verlassen. „Ein Unding, dass
       man sowas mit alten Leuten ungestraft machen darf!“, schimpft sie – das ist
       der Moment, in dem Inge ihren Kotti nicht mehr versteht. Und es ist auch
       Sinnbild dessen, wohin sich weite Teile der Stadt in den letzten Jahren
       entwickelt haben.
       
       Eine Frau, die hier so viel erlebt hat, merkt plötzlich, dass auch sie
       Spielball finanzieller Interessen werden könnte. Hat sie Angst davor? Inge
       blickt kurz hinauf zu ihrem Balkon. „Darüber habe ich mir noch keine
       Gedanken gemacht.“ Dann zeigt sie ein letztes Mal auf das Zentrum
       Kreuzberg: „Aber guckt mal: Warum sollte ich auch weg!? Es ist doch schön
       hier.“
       
       9 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Schlodder
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Berlin-Kreuzberg
       
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 (DIR) Interview mit „Kotti & Co“: „Helle Panik bei Regierungsparteien“
       
       Die Initiative Kotti & Co feiert den dritten Geburtstag ihres
       Protesthauses. Ein Gespräch über konkrete Erfolge, Politik im Alltag und
       den Mietenvolksentscheid.