# taz.de -- Das zweite Leben ist jetzt
       
       > Ein Rückblick, der alles findet, was er für die Gegenwart braucht: Das
       > Festival „Tanz im August“ feiert sein „Erwachsenwerden“ mit Stücken, die
       > der jüngsten Tanzgeschichte Rechnung tragen, und Diskussionen zum Stand
       > des in der Kulturpolitik Erreichten
       
       VON KATRIN BETTINA MÜLLER
       
       Seit 18 Jahren gibt es das Festival „Tanz im August“ – darum feiert es
       dieses Jahr sein „Erwachsensein“. Das klingt zunächst bemüht, wie die Suche
       nach dem Extrakick für ein eingeführtes Format, macht aber durchaus Sinn.
       Denn dass sich in der Infrastruktur des Tanzes einiges verbessert hat und
       seine Situation gerade in Berlin großen Verschiebungen unterliegt, ist
       nicht zuletzt auf den Einfluss dieses Festivals zurückzuführen. Die
       Energien, die seine Protagonisten all die Jahre in die Stadt getragen
       haben, trugen viel zur Anziehungskraft von Berlin auf die internationale
       Tanzszene bei.
       
       In diesem Jahr hat endlich die Arbeit an einem hochschulübergreifenden
       Ausbildungszentrum für Tänzer und Choreografen begonnen. Dass ein solcher
       Ort so lange in Berlin fehlte, war von Anfang an ein Motiv des Festivals,
       das jedes Jahr auch ein Weiterbildungsprogramm für Tänzer und Choreografen
       anbot. Dieses Jahr können sich junge Künstler mit ihren Projekten einzeln
       beraten lassen. An einem der „Zwischenruf“-Abende im Podewil wird
       diskutiert, was die Veränderung der Schwerpunkte in der Tanzförderung mit
       sich bringt. Heißt mehr Geld für Ausbildung und Vermittlung weniger Geld
       für die Kunst? Das sind ziemlich genau die Probleme, die das
       Erwachsenwerden ausmachen: sich plötzlich den Folgen der Erfüllung
       langgehegter Wünsche gegenüberzusehen.
       
       Vor allem aber berechtigt das Programm, das bis 2. September 24
       Produktionen eingeladen hat, den Geburtstagsgedanken mit Sinn zu füllen,
       reflektiert doch ein Teil der Gastspiele die Geschichte des
       zeitgenössischen Tanzes auf ungewöhnliche Weise. So setzten Louise
       Lecavalier aus Montreal, Ann Liv Young aus New York und Michèle Anne De Mey
       aus Charleroi am ersten Wochenende gleich mit drei großartigen Stücken
       unterschiedliche Akzente, um biografische Ansätze mit einem distanzierten
       Blick auf das Potenzial der eigenen Kunst zu verbinden.
       
       Eindringlich, berührend und schmerzhaft fiel das bei Louise Lecavalier aus,
       anarchistisch bei Ann Liv Young, mitreißend bei Michèle Anne De Mey. Louise
       Lecavalier war früher der Star der kanadischen Gruppe LaLaLa Humans Steps,
       die das Tempo des Tanzes in den 80er-Jahren ungeheuer beschleunigte und
       deren Stücke aus der Verausgabung und Verschwendung lebten. Ihre Solos
       heute, die Crystal Pite und Benoit Lachambre ihr als Porträts auf den Leib
       geschrieben haben, sind dagegen von extremer Langsamkeit gezeichnet und dem
       Zweifel am Sinn der Bewegung. Lecavalier ist eine Ikone, und ihre
       Ausstrahlungskraft ist noch immer ungebrochen, auch wenn sie, wie in
       Lachambres Regie, in Schichten von weiten Trainingshosen und Kapuzenshirts
       fast verlorengeht.
       
       Seit einem Unfall an der Hüfte kann sie nicht mehr am Training des Balletts
       teilnehmen. Ihre Bewegungsfähigkeit aber ist immer noch extrem, die Kraft
       außerordentlich. Zwischen einer Ballettstange und einem Stuhl schiebt sie
       sich auf der Bühne des Podewil in außerordentliche Positionen, die oft,
       nicht von ungefähr, an die Kunststücke der Hiphopper erinnern, durch den
       verlangsamten und unheimlichen Fluss der Kraft aber einen ganz anderen
       Ausdruck gewinnen. Das hat etwas Nachtwandlerisches und Geisterhaftes, ist
       von faszinierender Präsenz und schmerzhafter Abwesenheit zugleich erfüllt.
       Als ob sie sich in Erinnerung verliert und darin unerwartet ihr neues Leben
       findet.
       
       Ann Liv Young ist zwar erst 24 Jahre alt, ihr kurzes Stück „Solo“ aber
       gleicht einem Album der Popgeschichte und deren Versprechen von Sexyness
       seit der Hippiezeit und Andy Warhols Factory. Alles spielt in einem
       Wohnzimmer, pinkfarben ausgeleuchtet, das ihr eigenes New Yorker Loft
       zitiert. Zusammen mit Liz Santoro und Michael Guerrero performt sie sich
       durch ein Set von Videoclips, Erotikdance und Schokoladensoßen-Animation,
       mit großer Entschlossenheit und fast militärischem Drill, der all die
       Gesten von Lockerheit und Glück ins Komische verrutschen lässt. Zwischen
       den Nummern tigert sie ungeduldig über den rosa Teppich und springt –
       krawumm – mal so ganz nebenbei in ein Regal, das zusammenkracht. Das ist
       eine sehr gelungene Relektüre der Träume von der Befreiung in Sex und Pop
       und allem, was ihnen immer wieder im Weg stand.
       
       Aus dem Geist einer Party ist auch Michèle Anne De Meys Choreografie
       „Sinfonia Eroica“ geboren, die in der Schaubühne aufgeführt wurde. Das
       Stück entstand zuerst 1990, und sein Erfolg trug zur Rede vom „Tanzwunder
       aus Belgien“ bei. 99-mal wurde es aufgeführt, dann erlaubten die
       finanziellen Ressourcen nicht länger, es weiter im Repertoire zu behalten.
       Eine Rekonstruktion mit jungen Tänzern, die das Stück neu lesen, wurde erst
       möglich, als De Mey in das Leitungsteam des Tanzzentrums von Charleroi
       berufen wurde.
       
       Es geht um nichts in diesem Stück und um alles, was zwischen Freunden auf
       einer Party verhandelt wird. Alles geschieht wie nebenbei. Auch die Musik,
       von Mozart und Beethoven, wird, wie ein Nebengedanke im Kopf, nie zum
       Hauptmotiv. Die Bewegungen springen manchmal auf ihre Energie auf, treiben
       wie Schaum auf ihren Wellen oder tauchen, wenn sich die Tänzer über den
       Boden rollen, unter ihr durch; immer mit einem Understatement, das von
       großen Gefühlen weiß, sie aber nicht mit dem eigenen Leben verwechselt.
       Drehungen, Sprünge, Läufe; Solos und Ensembleszenen – alles kommt aus einer
       entspannten Haltung, die Bewegung oft mehr skizzierend als groß ausführend,
       und gerade das gibt dem Stück Leichtigkeit und Transparenz.
       
       So steht „Sinfonia Eroica“ nicht nur für ein Stück Historie, als der Geist
       des Ensembles und die Offenheit des Ausprobierens als verlockende und
       gestaltende Kräfte entdeckt wurden, sondern auch für ein Konzept, dem sich
       nach wie vor viele schöne Stücke verdanken: ein Rückblick, der alles
       findet, was er für die Gegenwart braucht.
       
       Tanz im August, bis 2. September, Programm und Karten unter
       [1][www.tanzimaugust.de]
       
       21 Aug 2006
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.tanzimaugust.de
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) KATRIN BETTINA MÜLLER
       
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