# taz.de -- Unter dem Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ demonstrierten gestern Hunderttausende in Berlin gegen Rassismus. Konsens bestand darüber, daß auch die Diskussion um das Asylrecht der Welle der Gewalt den Boden bereitet hat.
       
       ## Hunderttausende für den Artikel 16
       
       Friedlich und nett hatte alles begonnen. Zur politisch breitesten Demo
       aller bundesrepublikanischen Zeiten strömten Schülerinnen, Gewerkschafter,
       CDU-Mitglieder, Arbeitgeber, Punks, Postbeamte und Prominente zusammen. Die
       einen trugen ihre Parteifahne, die anderen nur ein fröhliches Gesicht.
       Samba-Bands sorgten für Stimmung, die Sonne kitzelte in den Nasen. „Das
       wird eine halbe Million Menschen“, freute sich Christian Ströbele von den
       Grünen, als schon eine halbe Stunde vor Abmarsch des Westzuges vom
       Wittenbergplatz alle Straßen von Menschen dicht waren. In 250 Bussen, drei
       Sonderzügen und unzähligen Privatautos waren Zehntausende aus dem
       Bundesgebiet angereist. „Wir sind aus Bayern und trotzdem hier“, hielt eine
       tapfere Schar ihr Fähnlein hoch. Auch die Kölner Ortsverwaltung der
       Postgewerkschaft und die „Museen gegen Fremdenhaß“ waren vertreten.
       
       Unübersehbar war allerdings von Anfang an, daß hier keine
       Regierungsdemonstration stattfinden würde. Die Mehrheit der Mitlaufenden
       war jung und gutbürgerlich bis alternativ. Die CDU hatte nur einen kleinen
       Teil mobilisieren können, die SPD schon weit mehr, die Grünen und das
       Bündnis 90 viele. „Artikel 16 bewahren“, verkündeten 2.000 grüne Schilder,
       die die AL unters Volk verteilte. Andere hielten einen Wald von
       birnenförmigen Plakaten hoch oder ergingen sich in immer neuen
       phantasievollen Variationen des Demonstrationsmottos: „Die Börse der
       Deutschen ist unantastbar“. Oder: „Der Zynismus der Politiker ist
       unfaßbar“. Oder: „Die Würde der Menschen ist längst angetastet –
       Brandstifter marschieren in der ersten Reihe“.
       
       Bundessozialminister Norbert Blüm (CDU) bekam diese Meinung überdeutlich zu
       hören. Es nützte ihm nichts, daß die Organisatoren an der Demospitze aus
       Angst vor den Massen schon vorzeitig abmarschiert waren und die
       Hinterdreinlaufenden in einem Tempo durch die Straßen zogen, als gelte es,
       sämtliche Teilnehmer für den Marathon der Olympiade zu qualifizieren. Als
       Blüm vom Tiergarten-Park aus zur Demo joggte und sich in der ersten Reihe
       plazieren wollte, wurde er regelrecht davongejagt. „Heuchler, Heuchler!“
       schrie ihm ein ganzer Pulk junger Leute in die Ohren. Andere Politiker
       schienen es vorgezogen zu haben, nur einige wenige Schritte mitzugehen. Der
       Bundeskanzler beispielsweise reihte sich erst beim Brandenburger Tor ein,
       andere wurden erst am Kundgebungsort, dem Lustgarten, gesichtet. Neben
       Manfred Stolpe und seinem Kabinett, das sich unter der brandenburgischen
       Landesflagge versammelt hatte, waren es nicht viele, die den ganzen Weg zu
       laufen wagten.
       
       Als Bundespräsident von Richard Weizsäcker kurz vor 13 Uhr am
       Demonstrationstreffpunkt im Osten, an der Gethsemane-Kirche, eintraf,
       umzingelten ihn sofort zwei Reihen Bundesgrenzschützer. Noch mußte er nicht
       vor aufgebrachten Autonomen geschützt werden, sondern vor gierigen
       JournalistInnen, die vor lauter Hektik das Transparent „Die Würde des
       Menschen ist unantastbar“ mit Füßen traten. Hinter Weizsäcker versammelte
       sich die politische Prominenz, die SPD-Spitze um Björn Engholm und Renate
       Schmidt, daneben Außenminister Kinkel, Gerhard Baum und, mit Blumen in der
       Hand, die Berliner Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien. Auch die
       Unterhaltungskünstler Udo Lindenberg und Thomas Gottschalk waren begehrte
       Interviewpartner.
       
       Rings um die Gethsemane-Kirche eine unüberschaubare Menge, die sich bis
       weit in die Seitenstraßen hinein drängelte. Nachdem die politische
       Führungsriege begonnen hatte, sich die Schönhauser Allee entlang Richtung
       Lustgarten zu bewegen, stand die Nachhut, nämlich der DGB, noch fast eine
       Stunde auf dem Platz. Es war ein riesiger Zug, vielleicht 40- bis 50.000
       Menschen, der sich dann fast zwei Stunden und in dichten Reihen langsam auf
       das Stadtzentrum zuschob. Und es war eine Abstimmung mit den Füßen für die
       Beibehaltung des Artikel 16 im Grundgesetz. Die Transparente und Fahnen mit
       den Aufschriften „Die Brandstifter sitzen in Bonn“, „Erst Heucheln, dann
       Meucheln“, oder ganz schlicht „Für Ausländer und Artikel 16“ waren einfach
       unübersehbar. Wie ein Fremdkörper wirkte hingegen ein fünf Meter langes
       Transparent, das vermutlich aus dem Fremdverkehrsverein entliehen war.
       „Sachsen-Anhalt — tolerant und weltoffen“.
       
       Und es war ein friedlicher Zug, die Atmosphäre erinnerte mehr an einen
       Sonntagsspaziergang als an eine Kundgebung. Nur vereinzelt schlugen
       Demonstranten agitatorisch die Trommel, die vorab verteilten Trillerpfeifen
       schienen die Kinder der Umgebung beschlagnahmt zu haben. Ausländer waren
       kaum zu sehen. Wo waren bloß alle die verängstigten vietnamesischen oder
       angolanischen Gastarbeiter? An diesem Tag hätten sie sich zwischen Menschen
       bewegt, die ihnen zugelächelt hätten.
       
       ## „Richard die Show versalzen!“
       
       Nur ein einziger Block innerhalb des kilometerlangen Zuges verhieß nichts
       Gutes. Über Megaphon kündigte ein Vermummter an, daß man „Richard“ am
       Lustgarten die Show versalzen wolle. „Wir werden mitdiskutieren — und so,
       daß man es merkt“, rief er wiederholt. Und er trieb seine Mannen an,
       schneller vorwärtszulaufen, denn „auch wenn wir hier am Schluß marschieren,
       noch ist die Schlacht nicht geschlagen“. Aber der Beifall, der der
       martialischen Drohung folgte, war schwach. Die zahlreichen PDS-
       Ortsgruppen, die hinter und vor diesem sogenannten „Artikel-16- Block“
       liefen, und erst recht die Kindergruppen diverser Kirchenvereinigungen
       hatten nichts als „Frieden, Freude, Eierkuchen“ im Sinn. So stand es auf
       ihren Luftballons zu lesen. Anita Kugler/Ute Scheub
       
       9 Nov 1992
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) anita kugler/ute scheub
       
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