# taz.de -- „Gärtnerei“ der Zukunft: Die Herkunft des Kohlrabis
       
       > Ideen brauchen eine gute Raumausstattung: Dafür sorgt beim taz.lab das
       > Kollektiv „raumlabor“ – in diesem Jahr mit seinem Gärtnerei-Projekt. Ein
       > Besuch.
       
 (IMG) Bild: Noch sind es dürre Stengel, im Sommer dann kraftvolle Pflanzen – die Zöglinge der „Gärtnerei“ von „raumlabor“ und „Schlesische 27“
       
       Ideen brauchen eine gute Raumausstattung: Dafür sorgt beim taz.lab seit
       Jahren das Architekt*innenkollektiv „raumlabor“. Dieses Jahr machen sie das
       HKW mit Erdsäcken heimelig: klingt komisch? Vielleicht. Deshalb haben wir
       bei Kooperationsprojekt „[1][Die Gärtnerei]“ – von „[2][raumlabor]“ und dem
       Kulturzentrum „[3][Schlesische 27]“ – vorbeigeschaut, wo die Einrichtung
       für's taz.lab 2016 entsteht. 
       
       Neukölln, Hermannstraße. Holzspäne fliegen umher, dann wird die Kreissäge
       langsam leiser. Kurz darauf kreischt sie von Neuem auf. Hinter dem
       steinern-altrostigen Tor liegt ein kleiner Vorgarten, dahinter steht das
       alte Steinmetzhaus des früheren Friedhofs, in dem einst die massiven
       Grabplatten gemeißelt wurden. Mitten in der Stadt gelegen, steht es aber
       doch für sich. Wir gehen durch das Tor hindurch und sind sofort mitten im
       Geschehen drin. 
       
       Mit Andrea Hofmann, 46, vom Berliner Architekt*innenkollektiv „raumlabor“
       und Nils Steinkrauss, 53 vom freien Kreuzberger Kinder- und
       Jugendkulturträger „Schlesische 27“ sind wir hier verabredet. Beide
       arbeiten in deren Kooperationsprojekt „Die Gärtnerei“. Auf einem 6.000
       Quadratmeter großen Gelände an der Neuköllner Hermannstraße gärtnern,
       bauen, kochen hier mehr als ein Dutzend Geflüchtete. 
       
       Aber das Projekt ist auch für andere explizit offen: Nachbarn, Freiwillige,
       Ehrenamtliche, Schüler*innen aus der Umgebung, der Besitzer des
       Falafel-Imbisses um die Ecke – alle gemeinsam ein neues Deutschland kennen.
       Einst, als Berlins Siedlungen noch nicht bis hierhin reichten, habe man
       hier die Friedhöfe angelegt, großflächig, sagt Steinkrauss. „Durch die
       veränderte Bestattungskultur geht der Bedarf an Bestattungsflächen aber
       seit Jahren stark zurück und die evangelische Kirche braucht so viel
       Friedhofsgelände gar nicht“, ergänzt Andrea Hofmann. 
       
       30 Jahre lang sei niemand mehr hier beerdigt worden. Stattdessen ließen
       „raumlabor“ und „Schlesische 27“ ein offenes Gärtnereiprojekt auf der
       Brache entstehen. Finanziert wird es durch Spenden und Mittel von
       Bundeskulturstiftung und Paritäter Berlin; Pflanzen wachsen hier seit Juli
       2015. 
       
       ## „Okay, but not perfect“
       
       Überall wuseln Menschen herum. Vor der Hütte wird gesägt, Bretter liegen
       verstreut, Arbeiter schnaufen beim Schubkarrenschieben. Eine Gruppe steht
       in der Erde und diskutiert mit wilden Gesten. Man muss aufpassen, nicht
       über auf dem Boden liegende Erdsäcke oder Blumentöpfe zu stolpern. Man
       merkt: Hier ist Bewegung, hier geht es voran. Kreatives Chaos – work in
       progress. Im Fenster des alten Steinmetzhauses klebt ein Sticker: „Vermehrt
       Schönes“. 
       
       Die kleine Tür an der Vorderseite quietscht beim Öffnen. Wir stehen im
       Vorraum und direkt vor der Küchenzeile. Rufe aus den Nebenräumen: „Bonjour,
       hi, hallo“. Es ist 12 Uhr: Mittagszeit. Geflüchtete kochen zusammen mit
       Freiwilligen, man unterhält sich, macht Späße. Paprika, Karotten, Tomaten
       werden zerstückelt. An der Wand hängen Plakate vom Deutschunterricht, auf
       denen deutsche Worte erklärt werden: „Kartoffel“ zum Beispiel, aber auch
       praktische Lebensdinge wie „Mülleimer“. 
       
       Mousa Sissiko ist „Gärtnerei“-Mitglied der ersten Stunde. Er lehnt auf
       seinem Hocker, die Hände auf dem Schoß gefaltet, schwarze Lederjacke,
       Jeans, und erzählt von seinem neuen Leben. Sein Deutsch sei „okay, but not
       perfect“ – also auf Englisch. Vor zwei Jahren kam der 24-Jährige als
       Geflüchteter nach Neukölln. Sissiko erinnert sich genau an seine ersten
       Wochen in der Fremde: „Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit den Deutschen
       kommunizieren soll, wie man sich Ihnen gegenüber verhalten soll.“ In der
       St.-Thomas-Kirche um die Ecke, die 2014 von Refugees besetzt wurde, habe er
       jemanden von der Schlesischen 27 getroffen und so vom Projekt erfahren. Er
       fängt an zu grinsen, seine Augen funkeln. 
       
       „Das sind zum Teil existentielle Fragen, die Geflüchtete haben: Was
       passiert hier überhaupt mit mir? Welche Rechte und Pflichten habe ich? Wie
       ist eigentlich mein Status?“, erklärt Steinkrauss. „Geflüchtete, die – noch
       – keinen Zugang zu Bildung und keine Arbeitserlaubnis haben, dürfen dennoch
       an Bildungs- und Kulturprojekten teilnehmen. Der ganzheitliche Ansatz der
       Gärtnerei verkürzt die oft quälende und demotivierende Zeit des Wartens und
       bietet kreative Beschäftigung.“ 
       
       ## Voneinander lernen 
       
       Dabei sind die Geflüchteten alles Andere als stumme
       Integrationslernstoffstaubsauger – Sissiko zum Beispiel war in Afrika
       Landwirt. Er kennt sich aus, kann anderen Leuten helfen und seine Erfahrung
       einbringen. „Das sind solche Aha-Momente“, sagt Hofmann: „Wenn sich dann
       herausstellt, dass irgendwer etwas sehr gut kann. So war das zum Beispiel
       auch mit dem Betonmischer für das Gartenprojekt, den jemand auf einmal sehr
       gut zu bedienen wusste.“ 
       
       Die Sprache ist dabei für Sissiko keine Hürde mehr, er seine Vorträge im
       zur Gärtnerei zugehörigen Café Nana, das regelmäßig Begegnungsabende
       veranstaltet, auf Deutsch – ein großer Schritt für ihn. „Wir können alle
       noch etwas von unseren Mitmenschen lernen. Jeder kommt von einem anderen
       Ort, jeder hat andere Erfahrungen“, sagt er. Hier wie im ganzen Projekt
       geht es nämlich nicht nur darum, Geflüchteten Deutschland näherzubringen,
       sondern auch umgekehrt. Geflüchtete wie Berliner erzählen im
       selbstorganisierten Café Nana von ihrer Heimat, ihren Traditionen, ihrer
       Sprache. 
       
       Menschen prägen Orte: Dies versucht „raumlabor“ architektonisch umzusetzen.
       „Das macht Orte ja gerade aus: dass sie irgendwie typisch sind.
       Shoppingcenter hingegen gleichen sich häufig und wirken dadurch beliebig.
       Sowas wollen wir nicht“, sagt Andrea Hofmann. Stadtentwicklung nicht nur
       baulich, sondern auch sozial begreifen, als Form des Zusammenlebens – das
       scheint der Kern der Aktionen des 1999 gegründeten Kollektivs, mit denen
       die Architekt*innen immer wieder Aufsehen erregen: zum Beispiel, als sie in
       München Holzhütten im öffentlichen Raum aufstellen, in denen man
       übernachten konnte („shabby shabby apartments“), oder, als sie kurz vor
       seinem Abriss einen riesigen „Berg“ vor dem Palast der Republik erstehen
       ließen. 
       
       „Das ist hier alles nicht vom Himmel gefallen. Damit muss man arbeiten“,
       sagt Andrea Hofmann. Das gilt auch für die „Gärtnerei“: „Es soll ein Ort
       sein für Begegnung, gesellschaftlichen Austausch und Aushandlung. Das kann
       nur als Prozess funktionieren“, findet Steinkrauss, und fügt hinzu: „Wie
       wollen wir miteinander wohnen? Diese Frage stellen wir uns hier auch
       immer.“ 
       
       ## Betriebliche Praxis bekommen
       
       „Learning by doing“ lautet das Motto: „Jeder kommt aus einem anderen Land,
       zusammen lernen wir hier die Sprache“, meint Sissiko. Jeden Vormittag ist
       bis 12 Uhr Unterricht – Sprache und Kultur des neuen Landes, manchmal auch
       Theoretisches über Landwirtschaft. Nach dem Mittagessen geht es bis 15 Uhr
       in den Garten. Durch das Projekt ist er inzwischen sogar an eine
       Ausbildungsstelle gekommen, in einer Familiengärtnerei in Potsdam. Derzeit
       ist er Praktikant; die Ausbildung, wenn er sich gut macht, beginnt direkt
       danach – ein weiterer großer Schritt in die neue Heimat. 
       
       Zuerst war er für einen Schweißer-Job bestimmt – aber Sissiko wurde bereits
       an beiden Augen operiert, der letzte Eingriff war erst im Januar. „Auch
       wenn es in Deutschland Schutzbrillen gibt, das ist mir zu gefährlich“, sagt
       er, „meine Augen sind mir zu wichtig, das Risiko ist zu groß.“ Betriebliche
       Praxis sei, neben Deutschunterricht und Arbeiten im Garten, sehr wichtiger
       Bestandteil des Projekts, sagt Steinkrauss – anders als bei staatlichen
       Programmen, die sich häufig nur um die Sprachkenntnisse konzentrierten.
       „Gerade haben wir enorm viele Hospitationen, zum Beispiel bei der Deutschen
       Oper.“ Trotz seiner Arbeit kommt er noch immer gern in die „Gärtnerei“
       zurück, denn er identifiziert sich mit ihr. 
       
       Einige Grablängen hinter dem Steinmetzhaus beginnt die Gartenfläche. Wir
       gehen vorbei an der Friedhofskapelle und einer Gedenkstätte für
       Zwangsarbeiter*innen aus dem zweiten Weltkrieg. In Komposteimern liegen
       Kränze, Blumen, eine leere Müslipackung. Am Wegesrand kaputte Grabsteine,
       Bretter, wilde Sträucher, Ungepflegtheit. „Viele Gräber sind verfallen.“,
       sagt Steinkrauss. Am Geländeende tauchen riesige Sprungtürme auf, die an
       Freibadflair erinnern. „Die wurden gebaut für die Einflugschneise nach
       Tempelhof“, erklärt Nils Steinkrauss. 
       
       Ganz hinten erkennt man einen hellbraunen Holzzaun. Hier beginnt das Gebiet
       der Gärtnerei. „Wir wollten zeigen, dass etwas Neues startet“, erklärt
       Hofmann stolz. Zwischen einer Zaunöffnung führt ein langer Holzsteg direkt
       quer über das Feld – Tisch, Abgrenzung, Bühne, Sitzfläche, je nach dem. Im
       Winter, wo wenig zu tun gewesen sei, fanden hier verschiedene Workshops
       statt. 
       
       ## Perspektiven für das Projekt entwickeln
       
       Noch wirkt der Garten bis auf ein paar Stauden kalt und trist, aber im
       Sommer soll sich das ändern. Vergangenes Jahr sei es zum Beispiel gelungen,
       obwohl das Projekt erst im Juli die Arbeit aufgenommen habe, noch vier
       Meter hohe Sonnenblumen wachsen zu lassen. Man spürt die Aufbruchstimmung:
       „Wir wollen, dass da was Schönes entsteht. Was genau, wird gemeinschaftlich
       entschieden. Aber feststeht: Die Mischung zählt für uns. Tomate neben
       Gerbera.“, so Nils Steinkrauss. Ein Garten voller Differenzen – schöner
       Differenzen. Wie man den Garten dabei ökonomisch verwerten könne, stehe
       zunächst im Hintergrund. „Aber auch da versuchen wir, Wege und Perspektiven
       zu finden – aber schrittweise, gemeinsam.“ Die Förderung durch
       Bundeskulturstiftung und Paritäter liefen nämlich bald aus. 
       
       Doch nun steht das taz.lab an, für „raumlabor“ bereits zum vierten Mal. Wie
       bereits die Jahre zuvor wird das Haus der Kulturen der Welt von der
       Architekt*innengruppe passend zum Thema dekoriert – dieses Jahr „Fremde
       oder Freunde? Die Lust an der Differenz“. „Bei dem Begriff Differenz
       wollten wir natürlich nichts Normales machen“, sagt Hofmann, „wir wollen
       aus der Reihe fallen, wir wollen irritieren. Dies drückt architektonisch
       der Winkel aus.“ Statt im rechten Winkel stehen auf dem taz.lab dann viele
       Objekte daher in etwas kleineren Winkeln wie dem sonst eher
       ungebräuchlichen 87°-Winkel. Das verwirrt Betrachter*innen und ist gewollt
       – als subtiler Bruch mit den Erwartungen, als Differenz im Blick. 
       
       Außerdem sind im gesamten Haus der Kulturen der Welt Sitzbänke angebracht –
       aus Erdsäcken. Ja, selbst Erde kann fremd sein. „Wieso ist Naturerde
       eigentlich ein Produkt, das man kaufen muss? Wieso ist sie überhaupt
       abgefüllt und in Säcke eingepackt? Warum wird sie künstlich, zu einer Ware
       gemacht? Wieso ist sie nicht für jeden frei verfügbar, genauso wie
       Leitungswasser?“ Auf diese Frage möchte „raumlabor“ mit der „Gärtnerei“
       beim taz.lab aufmerksam machen. Denn die Ausbeutung im Agrarsektor führe
       beispielsweise ja gerade zu Flucht und Verdrängung. 
       
       Auf der Dachterrasse wird ein Gewächshaus stehen. In den Säcken seien
       teilweise Pflanzen, aber, weil das taz.lab dieses Jahr schon Anfang April
       stattfindet, erst im Setzlingsstadium. „Auch Gemüse ist ja zum Beispiel
       fremd. Die Kartoffel ist ja auch nicht einheimisch, sondern war einst
       fremd, und wurde dann vertraut“, meint Hofmann. Sie wolle dadurch auch die
       Differenzen verwischen. 
       
       Und dann sagt Andrea Hofmann etwas Schönes: „Bei der Recherche bin ich zum
       Beispiel auf etwas gestoßen bei Wikimedia: „Die Herkunft des Kohlrabi ist
       ungeklärt.“ Das ist doch echt super! Architektur muss auch bedeuten:
       Geschichten erzählen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken.“ Die
       Freundschaft: Sie wächst. 
       
       Text und Fotos [4][TILLMANN BAUER] und [5][ADRIAN SCHULZ].
       
       30 Mar 2016
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Adrian Schulz
 (DIR) Tillmann Bauer
       
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