Die Versuchung der unschuldigen Katja Weihnacht, wenn die Kerzen scheinen und die Naechte finster sind, schwirren die Teufel und Engel aus. Ihre Reviere sind strikt aufgeteilt: Die Engel besetzen Lautsprecher, Warenhaeuser und Kinderseelen; die Teufel begnuegen sich mit den gehetzten Herzen der Eltern. Nur selten kommt es zum Kampf. Etwa eines Dezembermorgens im Advent letzten Jahres, als ein Engel mit Namen Katja in Zuerich vorbeireiste und von einem Teufel namens Alfred in Versuchung gefuehrt wurde. Katja war Schauspielerin und gehoerte trotz ihres Berufes zu einer sehr seltenen Sorte Mensch - zu den freundlichen. Obwohl intelligent, war sie grosszuegig und vertrauensvoll. Die Folge war, dass sie auf Strich und Faden ausgenuetzt, betrogen und fallengelassen wurde - wodurch sich nach 45 Jahren herausstellte, dass sie wie jeder Engel noch zu einer zweiten Sorte Menschen gehoerte: zu den Unzerstoerbaren. Jedenfalls, bis sie sich zu einem Treffen mit Alfred Luethi ueberreden liess. Der Teufel Luethi war Versicherungsagent, aber kein gewoehnlicher, sondern das Genie der Versicherungsbranche; in seiner Firma war er seit 17 Jahren ununterbrochen "Meistverkaufender Versicherungsvertreter des Jahres" geworden - selbst 1986, als er nach einer Herzoperation fuer sechs Monate ans Bett gefesselt war und seine Geschaefte vom Einzelzimmer eines Zuercher Privatspitals aus leiten musste. Sein aeusseres war boesartig unauffaellig: ein kleiner, energischer Mann mit grauem Anzug, Schwefelparfuem, Glatze und froehlichen Bewegungen. Er begruesste Katja ueberschwenglich, beklagte sich, dass ihm seine Arbeit kaum Zeit lassen wuerde, einmal ins Theater zu gehen, bekannte strahlend, er sei eben "ein Workaholic", und begann ueber seine Kunden zu klagen, die ihn beinah aufgefressen haetten. So habe er heute die ganze Mittagspause hindurch notfallmaessig eine Frau Suess beraten muessen, deren Mann gerade einen Schaedelbasisbruch davongetragen habe - und der dabei ungeheures Glueck gehabt habe, denn bei Schaedelbasisbruechen koennten oft bleibende Gehirnverletzungen auftreten . . . und gerade dagegen sei Herr Suess bestens versichert. Wenn er jetzt invalid werden wuerde, werde die R-Versicherung jahrelang draufzahlen . . . Damit oeffnete Luethi schwungvoll sein Koefferchen und blinzelte Katja zu, ob sie eigentlich fuersorgliche Familienmitglieder habe. "Wieso?" "Weil im gleichen Fall Sie von Ihrer Versicherung nur fuer ein halbes Jahr gedeckt sind, die deutsche Avia ist in solchen Faellen vorsichtig . . ." Luethi strahlte, er habe erst letzten Monat von einem Fall gehoert, da sei jemand nach einer Thrombose - bei allem Respekt - gaga geworden: "Ein Pianist, stellen Sie sich das vor!" Daraufhin sei er von der eigenen Frau und seinen Kindern nicht wie ein, sondern als Hund gehalten worden - heulend und im Keller angekettet, um weder sich noch anderen schaden zu koennen. Er, Alfred Luethi, koenne sich natuerlich nicht vorstellen, dass auch ihre Familie so etwas anstellen koennte - aber man wisse ja nie, so fuhr er froehlich fort, und ob sie nicht einen Spezialvertrag fuer ihr Gesicht abgeschlossen haette. "Mein Gesicht?" "Mmmh", erwiderte Luethi und fragte, ob Sie einen Amerikaner namens John Grimshaw kenne? Der sei ebenfalls ein Kuenstler. "Nein." NNun, erzaehlte Luethi, Grimshaw sei in den Siebzigern Schlagersaenger gewesen und habe ungeheures Glueck gehabt, denn er habe Stimme und Aussehen fuer drei Millionen Dollar versichern lassen - und vier Wochen spaeter sei ein Fritiertopf explodiert, und das oel habe ihm das Gesicht verbrannt - und auch die beste plastische Chirurgie koenne keine Wunder wirken, leider, und er musste seine Karriere aufgeben. "Aber besser ein Zombie mit als einer ohne drei Millionen Dollar", sagte Luethi und laechelte. Na ja, wenn man sich so eine Buehne mal ansehe: Falltueren, zentnerschwere Kulissen, er habe einen Dirigenten gekannt, der rueckwaerts in den Orchestergraben gefallen sei: Ein brillanter Mann, wirklich, aber fahrlaessig versichert. Heute lebe er vom Lohn seiner Frau - die jetzt putzen gehe. Das Leben sei eben manchmal unberechenbar, aber logisch, fuhr Luethi nachdenklich weiter, und es sei klar, dass sie, Katja Schmitt, wenn ihr zum Beispiel ein Arm abgetrennt wuerde, natuerlich kaum noch Liebhaberinnen spielen koenne, ein abgetrennter Arm sei nicht so extrem Seltenes: "Erst letzten Monat hat eine Nachbarin von mir, Frau Meier, die aber Glueck im Unglueck gehabt hat - eins a versichert -, ihren Arm nach einer Streifkollision mit einem entgegenkommenden Pkw amputieren lassen muessen. Sie hielt den Ellbogen aus dem Fenster . . ." Darauf kam Luethi strahlend, froehlich, die Glatze wie einen Hypnosependel schwenkend, auf Dutzende von technischen Versagen, Haushaltsunfaellen, Frontalkollisionen, Gebrechen, Tumoren, ploetzlichen Geisteskrankheiten zu sprechen, zaehlte ganze Familien von Leuten auf, die das Glueck gehabt hatten, dienstags eine Versicherung abgeschlossen und sich mittwochs querschnittgelaehmt im Rollstuhl, in Fetzen oder als halbes Koerperteil wiedergefunden zu haben: privilegiert gegenueber denen, die unversichert zerfleischt worden waren . . . Worauf Alfred Luethi die Atmosphaere staatlicher Kliniken mit Mehrbettzimmern schilderte, die unmenschlichen Umstaende, unter denen die Patienten von debuetierenden oder senilen aerzten behandelt wuerden (die leichten Faelle genauso wie die schlimmsten), worauf er auf die Aussichten von Schauspielerinnen im Alter aufmerksam machte ("als Oma koennen Sie kein knackiges Gretchen mehr spielen"), vor zuviel Alkohol und Kantinenrindfleisch warnte und eine ziemlich praezise Skizze ueber den Verlauf des Wundbrands gab: "Sie selbst merken nichts!" DDanach hinterliess er seine Papiere, erklaerte leise enttaeuscht, aber trotzdem gutgelaunt der bleichen Katja, sie solle sich alles in Ruhe ueberlegen, er sei sowieso von 8 bis 22 Uhr per Natel erreichbar, und ihr Fall sei interessant und sympathisch: Selten habe man die Gelegenheit, so ein schoenes Gespraech zu haben - und sich mit Kuenstlerinnen zu unterhalten, habe er viel zu selten das Vergnuegen . . . Katja nickte, verabschiedete sich und brach zusammen. Sie lag fuer vier Tage im Bett, bis sie sich traute, wieder aufzustehen, und sich in die Welt zurueckwagte, die seither - wie sie sagte - fuer sie die Welt Alfred Luethis geworden war, nicht mehr die ihre: Sie hatte sich daran gewoehnt, von Regisseuren angepumpt, von ihren Freunden fertiggemacht, von ihrer Freundin Renate betrogen, angeschrien und verlassen zu werden - aber nicht an die unter Strom gesetzten Steckdosen, die in der Badewanne herumliegenden Seifen, die amoklaufenden Autos, an das Universum der Rollstuehle, Explosionen und Pannen - eine Hoelle, in der der Unfall die Untat, der Zufall den Lebenslauf und explodierende Fritiertoepfe das ewige menschliche Drama ersetzt hatten. So fuehrte der Teufel den Engel in Versuchung. Aber trotz allem Schrecken widerstand Katja und blieb unschuldig. Sie war einer der wenigen Faelle, in denen Alfred Luethi, das Genie unter den Versicherungsvertretern, versagt hatte. Denn sie zerriss seine Karte und rief ihn nie wieder an. .