(SZ)Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte, schrieb Brecht. Aber das ist lange her und gilt nicht mehr. Städte sind bewohnbar geworden, sind durchzogen, nein, verschüttet von reiner Natur. Tonnenweise Sand liegt in diesem Sommer auf den dunklen steinernen Ufern der Flüsse in Paris, in Berlin und sogar in Düsseldorf, vom Meer herangekarrtes körniges Gold. Nach der Arbeit schlendern wir übers Pflaster zum Strand. Entledigen uns unserer dampfenden, glühenden Schuhe. Kapern einen sonnenbleichen Liegestuhl. Lächeln über die heranwehenden hochmütigen Mädchen, die plötzlich mit ihren Stöckelabsätzen neben uns versinken, lautlos, bis zu den Knien, ach was, bis zum Hals, und weiter sinken sie im weichsten Sand der Welt, gleich, ohweh, werden sie untergegangen sein, arme Metropolenmädchen. Da reichen wir ihnen ein Glas, und mit spitzen Fingern und leisen Schreien greifen sie es und ziehen sich hoch, und wir, die Retter, die nicht schwimmen müssen, lassen sie zwecks Wiederbelebung nippen vom Bier, vom Prosecco, vom Absinth. Vom Absinth? Am Strand? Aber ja. Keine Ahnung, wie es in Paris ist, gar nicht zu reden von Düsseldorf, aber in Berlin, mit Blick auf Reichstag und Lehrter Bahnhof, wird am Bierstand Absinth ausgeschenkt, und jegliche Logik zerrinnt in schwüler Nacht. Schon hat sich die erleuchtete Halbkugel des Reichstags vom Grundkörper gelöst und schwebt in der Luft, ein umgefallener scharfkantiger Mond, gefährlich hängt er über uns, so nahe, dass wir gleich mit der Schädeldecke daran stoßen werden, mit dem himmelwärts steigenden Schädel, um den blitzende Schlangen kreisen, es heißt, ganz früher, vor ca. einer Stunde, seien das S-Bahnen gewesen, aber jetzt sind es fliegende Boas, ja im Absinth/mein Kind/alle Züge giftig sind. Am nächsten Morgen so eine Sehnsucht im kaputten Körper. Nach dem Meer. Was war das denn am Abend? Fußball ohne Tore. Sex ohne Partner. Strand ohne Weite. Die nur halb erfüllten Wünsche sind die schrecklichsten. Wir packen die Badehose ins Auto und wollen los, an die wogende nördliche See, in die Vollkommenheit. Doch schon ist es nicht mehr nötig, schon ist es nicht mehr möglich. Die Stadt hat sich - in dieser kurzen Zeit! - wieder ein Stück verändert. Hat nun bereits ihren steinernen Charakter verloren. Ihre Enge. Ihre Hektik. Eichen und Platanen sind verschwunden, vom Wind gen Süden gedrückte Kiefern streicheln unsere Balkons, Sanddünen umspülen unsere Autos. Noch ist kein Rauschen, kein Brausen zu hören. Doch ohne Zweifel wird Berlin bald am Meer liegen (und irgendwann auch Böhmen), die Stadt wird im Meer verschwinden, und tausende auf Grund sinkende Stöckelschuhe werden Zeugnis ablegen von dem heißen Sommer, in dem alles begann.