(SZ)Was außer seiner Morgenlektüre braucht der Mensch, bevor der Arbeitstag beginnt - wenn er denn eine Arbeit hat? Was ist das Mindeste? Ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett? Erst kommt das Fressen, dann die Moral, lässt ein zorniger Dichter den Macheath ausrufen auf die Frage, wovon der Mensch denn lebe. Wir haben das, bei wiederkehrenden Diätkuren, inzwischen vergessen, und schon gar nicht wissen wir, dass vor dem Fressen Wichtigeres noch kommt: Der Mensch braucht ein Papier, auf dem steht, dass er der ist, der zu sein er behauptet, und auf dem steht, dass der, der zu sein er vorgibt, auch dort sein darf, wo er ist. Dazu also die Papiere, im Deutschen meist als Plural vorkommend, möglichst gute Papiere aus einem mitteleuropäischen Land, ausgegeben und unterschrieben in einer mitteleuropäischen Amtsstube, und wenn sie beglaubigt sind mit allerlei Stempeln, umso besser. Das war schon so, als Wilhelm Voigt mit ein paar Soldaten nach Köpenick marschierte, wo ihn Papiere mit Stempeln vom Individuum zum Menschen werden ließen. Wer je vor einem Schalter stand, um sich am zäh hinhaltenden Widerstand eines Konsularbeamten zu reiben, damit der einem gäbe, was einem zusteht, kann noch lange nicht ermessen, wie dem zumute ist, der vor einem Schalter steht und haben will, was ihm nach dem Gesetz nicht zusteht. Es gibt Menschen, die haben keine Papiere. Menschen, die es von Amts wegen gar nicht gibt und die sich nicht von der Polizei fangen lassen dürfen, damit keiner merkt, dass sie doch da sind. In Frankreich sind das Zehntausende, sie haben Namen wie Mustapha oder N'Famara, heißen nur selten Pierre oder François. Les sans-papiers nennt man sie: "die Ohne-Papiere". Manchmal gehen sie auf die Straße und rufen gemeinsam, dass sie auch Papiere haben wollen wie alle anderen Menschen. Sie kommen von weit her und erhoffen sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wunder also. So wie Mustapha Keita und N'Famara Bangoura, denen eines widerfahren ist. Sie hatte es auf komplizierten Wegen von Guinea nach Frankreich verschlagen, in das Dorf Nauroy im Departement Aisne und an den Canal Saint- Quentin. An dem standen sie eines Tages, als ein junger Mensch hineinfiel, der nicht schwimmen konnte. Mustapha und N'Famara sind ins kalte Wasser gesprungen und haben sein Leben gerettet, danach mussten alle niesen und waren glücklich. Mustapha und N'Famara, die Ohne-Papiere, bekamen je eine Medaille und eine Aufenthaltsgenehmigung mit dem Stempel des Präfekten, und die beiden Männer weinten ein bisschen, als sie der Bürgermeister vor allen Leuten umarmte und ihnen ein "Willkommen in der Republik" entbot. Was braucht der Mensch? Ein Stück Papier mit einem Stempel. Dann sehen wir weiter.